Ein Törn in der nördlichen Bretage ist eine Herausforderung an den Segler, aber auch ein Fest für die Sinne.
Sooo viele Steine, klagt David. Er ist ein Bekannter aus London und war mit seiner Freundin nach Frankreich gekommen, um mit uns gemeinsam in der Bretagne zu segeln. Um ihn auf dieses Revier vorzubereiten, sagte ich am Telefon zu ihm: Stell dir Schweden vor, mit all den Schären, dazu fünf Knoten Strömung und oftmals dicken Nebel! Letzteres behagte David nicht, denn er ist Filmemacher und ein ausgeprägt visuell empfindender Mensch. Dann vertröstete ich ihn jedoch mit der Aussicht auf ausgefallene Lichteffekte und exotische Landschaftsbilder. Tatsächlich verwandeln sich weite Flächen glitzernden Wassers vor der bretonischen Küste bei Niedrigwasser in eine bizarre Mondlandschaft aus scharfzackigen Felsen: Bis zu zehn Meter Tidenhub machen es möglich. Dieser enorme Gezeitenunterschied lässt das Wasser umso schneller strömen, stellenweise mit einer Geschwindigkeit, die so manch eine behäbige Fahrtensegelyacht allenfalls bei frischer Brise erreicht.
Was hat uns um Himmels willen darauf gebracht, ausgerechnet an dieser Küste zu segeln? Cidre, Crepes und Calvados, hieße die kurze Antwort. Dazu kommen natürlich noch die unendlichen Variationen essbaren Meeresgetiers, mit und ohne Schalen, die mit dem frischen und köstlichen Muscadet aus dem Tal der Loire heruntergespült werden wollen. Das gehört zwar, wenn man es genau nimmt, nicht mehr zur eigentlichen Bretagne, doch immerhin zum direkten südlichen Grenzland. So sind die Loire-Weine auch bei ausgeprägtem keltischen Lokalpatriotismus noch akzeptabel.
Überdies ist die felsige Nordküste der Bretagne eine Herausforderung an jeden Segler. Belohnt wird der abenteuerlustige Seefahrer durch fantastische Ankerbuchten, verträumte Dörfer, romantische Land- und Seeschaften. Von der alten Seefahrerstadt St. Malo sind es gute 35 Meilen bis zum idyllischen Fischerhafen von Paimpol oder zur wunderschönen Ile de Bréhat, die allerdings keinen Hafen und nur wenige Ankerplätze hat, wo einem normalen Fahrtenschiff auch bei Niedrigwasser noch ein paar Zentimeter Wasser unter dem Kiel bleiben. Diese 35 Seemeilen lassen sich mit einer Tide gerade so bewältigen. Allerdings nur, wenn man schnell genug ist und, mit dem Tidenstrom unterm Kiel, an die sieben Knoten machen kann: Ab etwa einer Stunde nach HW St. Helier beginnt der Strom in diesem Teil der Bucht von St. Malo nach Westen zu laufen, bis sechs Stunden nach HW St. Helier. Um NW St. Helier herum hat man eine Stunde Stauwasser, doch schon eine Stunde nach NW St. Helier läuft dann der Ost-setzende Strom. Was natürlich den Nachteil hat, dass man ziemlich genau bei Niedrigwasser in Paimpol ankommt – der Hafen kann jedoch nur ab rund zwei Stunden vor Hochwasser angelaufen werden.
Ein Dilemma, mit dem man in diesen Tidengewässern leben muss. Die Lösung: Ankern in der Ansteuerung, bis wieder genug Wasser da ist. Oder, besser noch, gleich einen Ankerplatz südlich der Ile de Bréhat suchen, das geht bei Niedrigwasser wiederum am einfachsten. Dann erspart man sich nämlich die Rechnerei mit Uhr und Tidenkalender, ob bei Niedrigwasser wohl auch noch mindestens die sprichwörtliche Handbreit Wasser unterm Kiel verbleibt. Am besten ankert man hier übrigens in dem treffend so genannten „La Chambre“, einer tiefen Stelle eben östlich des trockenfallenden Port Clos.
Überhaupt, die Ile de Bréhat. Eigentlich sind es zwei Inseln, die im weiten Mündungsbereich des Rivière de Trieux liegen, doch diese wurden bereits im 18. Jahrhundert durch eine schmale Straße miteinander verbunden. Westlich davon entstand dadurch die geschützte Bucht von La Corderie. Wir wagen uns nicht dort hinein, denn die weiter drinnen liegenden Boote erwecken den Eindruck, als seien sie von einer schrecklichen Epidemie dahingerafft worden. Schräg auf die Seite gefallen, liegen sie kreuz und quer in dem bei Niedrigwasser trockenen Becken herum. Nur einige wenige halten sich dank ihrer Wattstützen aufrecht.
Die Insel selbst wirkt wie eine Spielzeuginsel. Alles scheint ein etwas zu klein geraten zu sein, die winzigen Sandstrände, die schmalen, gewundenen Wege, der niedrige Leuchtturm Rosedo. Verwunschene Häuser verstecken sich unter niedrigen Bäumen und hinter dichten Büschen, die meisten davon sind Feriendomizile wohlhabender Festlandsfranzosen. Das Klima wirkt fast subtropisch. Überall wachsen Pinien, Mimosen und Eukalyptusbäume.
Aber bald zieht es uns weiter nach Westen, zur Côte du Granit Rose, knapp 20 Meilen entfernt. Die Felsen sind hier wirklich in einem zarten Altrosa gefärbt, aber fast noch bemerkenswerter ist die Bucht von Trégastel mit dem auch als Landmarke weithin sichtbaren Wackelstein La Pierre Pendue (der Aufgehängte Pierre), der aussieht als würde er jede Sekunde kippen und dabei doch schon seit Tausenden von Jahren in seiner statisch bedenklichen Lage verharrt. Unbedingt sehenswert ist auch Ploumanac’h, gleich nebenan. Zwischen dem Leuchtturm Pointe de Mean Ruz, dessen Farbe sich kaum von derjenigen der umliegenden Felsen unterscheidet, und einem Bilderbuch-Château auf einer kleinen Insel geht es hinein in die schmale Einfahrt. Kristallklares Wasser ermöglicht tiefgründige Einblicke, wir können jeden Stein und jedes Büschel Seetang am Grund erkennen. Bei Nipptide ist dies bestimmt einer der idyllischsten Ankerplätze, denn dann verbleiben hier bei Ebbe noch knappe zwei Meter Wasser. Wir haben jetzt allerdings Springtiden und verlegen uns nach einem Blick aufs Echolot lieber in ein weiter innen liegendes Becken, das wie eine runde Lagune von der restlichen Bucht abgetrennt ist. Hier liegen wir abends an einer langen Reihe von Moorings wie in einem idyllischen Teich.
Nur drei Seemeilen nördlich von Ploumanac’h liegen die Sept Iles. Sieben felsige, grüne Buckel vereinen sich bei Ebbe zu einer zusammenhängenden Mondlandschaft von rund 40 Hektar Fläche. Wir ankern für einen Nachmittag zwischen den beiden größten Inseln, der Ile aux Moines und der Ile Bono. Betreten dürfen wir allerdings nur die Ile aux Moines. Alle anderen Eilande bilden ein Vogelschutzgebiet, in dem man vom Wasser aus mit dem Fernglas, Geduld und ein etwas Glück unter anderem Papageitaucher, Basstölpel und Krähenscharben beobachten kann. Auf der Ile aux Moines begeben wir uns auf die Spuren der zu Zeiten von König Ludwig XV. hier stationierten Soldaten, die damals die bretonische Küste vor Piraten und Schmugglern schützen sollten. Heutzutage lebt auf der unwirtlichen Insel niemand mehr. Mit einer, nein zwei Ausnahmen – der Leuchtturmwärter mitsamt seinem Hund. Tatsächlich ist der Leuchtturm der Insel einer der letzten bemannten Leuchttürme überhaupt.
Von hier geht es bereits wieder gen Osten zurück, aber zu sehen gibt es ja noch mehr als genug. So steuern wir den Rivière de Tréguier an, und auch das wird wieder einmal spannend: „Guck doch mal! Wohin du schaust, nur Felsen!“, ruft David, wie schon eingangs zitiert, aus. Doch weiter flussaufwärts bekommt das Auge schnell Abwechslung. Rechts und links erheben sich bewaldete Hügel, und entlang der Flussufer kann man die Austernzüchter bei der Arbeit beobachten – jetzt im Frühjahr werden die Austern sortiert und umgebettet.
Am nächsten Tag segeln wir mit der letzten Ebbe flussab, mit der jungen Flut außen um den Leuchtturm Les Heaux herum und gleich wieder in den nächsten Fluss hinein. Dies ist der Rivière de Pontrieux, und mit dem auflaufenden Wasser kommen wir ganz bis ans schiffbare Ende dieses idyllischen Flusses. Das kleine Städtchen Pontrieux erreicht man auf den letzten Metern nur noch über einen durch eine Schleuse vom Fluss abgetrennten Kanal. Hier fühlen wir uns mitten ins tiefste Binnenland versetzt und genießen zur Abwechslung von der rauen Küste einmal die gemächliche Gangart der ländlichen Bretagne. Denn verschlafen ist hier nicht nur die Landschaft. Auch der Schleusenwärter liegt laut schnarchend im Stuhl vor seinem Schreibtisch und lässt sich erst durch lautes Rufen und Klopfen unsererseits in seiner Ruhe stören.
Nach einem göttlichen Mahl in einem kleinen Restaurant direkt am Kanal wanken wir benommen an Bord zurück. Am nächsten Morgen werden wir von hier aus mit dem ablaufenden Wasser bis zur Flussmündung und dann mit der Flut direkt nach St. Malo zurücksegeln. Der wie alle Bretonen sehr freundliche Schleusenwärter ruft uns bei der Abfahrt ganz untypisch auf Englisch nach: See you again. Wie recht er damit doch haben könnte, denn nach diesem einen Bretagnetörn haben wir von dieser Region noch lange nicht genug.