Fast jeder Segler träumt irgendwann vom Langfahrtsegeln. Dabei spricht vieles dafür, einfach mal zuhause zu bleiben. Auch ohne Corona Lockdown und Pandemie. Eine Abrechnung mit der Romantik.
Sie ist so alt wie die Seefahrt selbst: Die Sehnsucht nach dem, was hinter dem Horizont liegt. Vielleicht ist sie sogar noch älter, vermutlich hat sie die Erfindung des Bootes überhaupt erst in Gang gesetzt: »Wenn du ein Boot bauen willst, dann wecke in dir zuerst den Traum nach der See«, heißt ein weiser Rat für alle angehenden Amateurbootsbauer, bei denen die Gefahr ja besonders groß ist, dass ihnen irgendwann auf dem langen Weg zwischen Kiellegung und Stapellauf die Motivation abhanden kommt. Die Eigner bereits segelfertiger Boote verspüren die Verlockung der weiten See und ferner Gestade noch viel stärker. Einfach die Segel setzen und alles hinter sich lassen. Keine Staus, kein Schmuddelwetter, keine Steuererklärung. Kurz: Kein Stress. Das klingt schon verlockend. Wäre das nicht das Paradies?
Könnte sein. Gäbe es da nicht auch das geflügelte Wort der Profisegler, die, in der Karibik oder anderswo in tropischen Traumrevieren, als Crews auf großen oder auch sehr großen Yachten ihren Job machen: »Another rotten day in Paradise!«, sagen sie, fast täglich, nach dem dritten Bier des Vormittags, also fast schon Koma-saufend wie Jugendliche aus den sozialen Brennpunkten deutscher Großstädte. »Noch so ein beschissener Tag im Paradies.« Ja, kann denn das wahr sein?
Langfahrtsegeln – der Traum vom Abenteuer?
Sogar ein Weltumsegler hat heute nichts mehr zu lachen, muss vielleicht noch viel mehr Abenteurer sein als die Pioniere in den seligen 1950er und 60er Jahren. Was hatten die schon auszustehen. Überall wurden sie mit offenen Armen empfangen, als eine der ersten Segler, von freundlichen Südseeinsulanern mit Geschenken überhäuft und zum Häuptling ehrenhalber ernannt, von gelangweilten Kolonialbeamten in deren Residenzen eingeladen und verwöhnt, von den Bürokraten an Land – meist – ignoriert und in Ruhe gelassen. Und sogar nach ihrer Rückkehr in die Heimat – sofern diese denn stattfand – wurden sie noch begeistert gefeiert. Durften Bestseller schreiben und Vorträge halten, Autogramme geben und Honorare einstreichen. Und damit eine ganz bestimmte, sehr reizvolle und hübsche Romantik pflegen, die sich in vielen ansonsten durchaus klugen Köpfen fest eingenistet hat.
Dabei sieht die Realität heute zunehmend ernüchternd aus. Die größte Müllhalde des Planeten befindet sich nicht an Land, sondern treibt irgendwo auf den Weltmeeren herum. Piraten kapern und morden, korrupte »Immigration Officers« fordern ganz unverhohlen ihr Bakschisch ein, Kleinkriminalität (»I watch your dinki, man!«) begegnet uns auch an karibischen Traumstränden. Yachten, beziehungsweise deren vor allem in den Augen bitterarmer Drittweltbewohner unvorstellbar reiche Besatzungen, sind an vielen Orten der Welt ganz offenbar vor allem dazu da, um ausgenommen zu werden. Im besten Fall auf noch einigermaßen zivilisierte Art durch Liegebühren oder Werftrechnungen, im schlimmsten Fall mit blutiger, roher Gewalt. Die sich keinesfalls »nur« auf die somalischen Gewässer am Horn von Afrika beschränkt. Immer wieder werden Yachties überfallen und, viel zu oft, dabei ermordet. Sir Peter Blake im Amazonas. Das englische Ehepaar Robertson, das in den Bhutang Inseln in Thailand an Bord ihrer ankernden Yacht überfallen wurde, wobei Malcolm Robertson ermordet wurde. Die vielen Fälle von Raubüberfällen auf Yachten in den südlichen Windward Islands der Karibik oder in Venezuela, ganz zu schweigen von der immer mal wieder brenzligen Situation im Golf von Aden oder dem Roten Meer. Einzelfälle? Schon lange nicht mehr.
Langfahrtsegeln und Weltumsegelung heute – ein Abenteuer der anderen Art
Dann die jüngste Pandemie. Gefangen im Paradies, Fluch der Karibik, so und anders lauteten die Headlines der Meldungen und Artikel und Blogs über auf ihren Yachten eingesperrte Langfahrtsegler. Während gefühlt auf der ganzen Welt die Häfen schlossen, waren die Liveaboards längst nicht überall mehr willkommen. Natürlich gab es solche und solche Geschichten, von krassen Behörden, die Yachten hinauswerfen ließen; aber auch von freundlichen Menschen, die lokale Vorschriften mit Außenmaß und Empathie auslegten. Und von Yachties, die das Beste aus der Lage machten. Letztendlich war es wohl Glückssache, wo man im weltweiten Lockdown gerade gestrandet war. In einem freundlichen und geschützten Hafen, oder aber eben anderswo.
Man konnte auch Pech haben und an einem besonders teurer Ort gefangen sein. Tahiti zum Beispiel ist das wohl teuerste Land der Erde. Und als SeglerIn muss man dort, in normalen, Pandemie-freien Zeiten eine saftige Kaution hinterlegen, um nötigenfalls von den Behörden zurück nach Europa ausgeflogen zu werden – als wolle im Ernst irgendjemand noch auf Dauer dort bleiben, wo eine Dose Bier soviel kostet wie anderswo ein Filetsteak.
Unberührte Paradiese?
Dafür werden den Reisenden, die mit dem Flugzeug dort landen, soviel ich weiß noch immer die traditionellen Blumenkränze um den Hals gehängt. Ist das noch ursprünglich oder nur eine folkloristische Geschmacksverirrung? Überhaupt, das Thema »unberührt«. Wieso gibt es immer noch solch naive Seelen die davon träumen, irgendwo auf eine Insel zu stoßen, die seit Jahrhunderten vom lauf der Zeit und der Welt abgeschnitten blieb; wo die Bewohner möglichst noch in Baströckchen herumlaufen und vor-christliche Riten beschwören?
Während die SeglerInnen selbst natürlich einen Satelliten-gestützten Internetzugang an Bord haben, mittels dem sie ihre fantastischen Erlebnisse gleich an die »zivilisierte« Welt im alten Europa oder neuem Amerika Twittern oder Bloggen können. Wo wir doch längst alle im gleichen Boot sitzen, wie wir spätestens jetzt wissen, und Ghandi schon vor langer Zeit das vorläufig letzte Wort zum Thema Zivilisation gesagt hat. Nämlich auf die Frage, was er von der westlichen Zivilisation hielte. »It would be nice«, hat er gesagt.
Durch Wegsegeln ist das nicht zu ändern. Wer sein Leben anders leben möchte, abseits vom üblichen Trott, kreiert sich das selbst – und überall. Europa zum Beispiel ist toll. Ein Kontinent, so vielseitig wie kein anderer. Kulturell und geografisch, selbst klimatisch. Man muss hier keine großen Strecken segeln (oder fliegen), um ganz unterschiedliche Küstenlandschaften, Reviere, Häfen zu erleben. Die Südsee dagegen: Hast du ein Atoll gesehen, kennst du sie alle. Ringriff, Sandhaufen, Palme drauf, fertig. Auch, wenn 1000 Seemeilen und mehr dazwischen liegen.
Und einfach nur eine gute Zeit an Bord zu haben, das geht hier in Europa sowieso besser. Die Infrastruktur an Land stimmt, auch was Bars und Restaurants betrifft. Häfen, sogar sichere, gibt es haufenweise. Aber eine Atolldurchfahrt im Monsunregen bei Strom und Dunkelheit? Ein rolliger Ankerplatz in der Karibik? Moskito-Alarm im Hurricane-Hole? Muss ich mir das wirklich noch geben?
Manch einer beibt da doch lieber gleich ganz an Land und genießt das gelegentliche Segeln an den Wochenenden und im Urlaub – am besten in der gecharterten Yacht. Wo man einfach den Mechaniker rufen kann, wenn was an Bord nicht funktioniert. Natürlich hat man dabei viel mehr vom Leben, als wenn man auf einem kabbeligen Ankerplatz in tropischer Hitze bei 40 Grad Celsius unter Deck (mal wieder) die Toilette reparieren muss.
Wäre da nicht, auf der anderen Seite, diese verfluchte Sehnsucht nach dem Horizont. Und nach allem, was jenseits davon lockt…