Walter Moers: Die Insel der Tausend Leuchttürme

So romantisch und gefährlich ist also Norderney. Das hätte man gar nicht gedacht, wenn man an die biedere Urlaubsinsel im der Nordseeküste vorgelagerten Flachwasser denkt. Aber es ist ja auch nicht wirklich Norderney, sondern eben die Insel Eydernorn, auch bekannt als „die Insel der 1000 Leuchttürme“, obwohl es nur 111 sind. Wie konnte ich nur auf Norderney kommen? Na, egal. Wichtiger sind die 1000 oder 111 Leuchttürme, die Hildegunst von Mythenmetz folgendermaßen beschreibt (wie immer in einem Brief an seinen alten Freund, Hachmed Ben Kibitzer):

„Ich möchte auch gerne den einen oder anderen Leuchtturmwärter über seine Berufserfahrungen aushorchen, wenn diese als notorisch maulfaul verschrienen Einzelgänger das überhaupt zulassen. Dir ist bekannt, mein lieber Hachmed, dass ich kein Architekt bin und auch keine Karriere als Leuchtturmwärter anstrebe. Aber man kann als Schriftsteller aus jeder Disziplin, jeder anderen Kunst und jeder Wissenschaft Honig für das eigene Schaffen saugen, das ist meine tiefe Überzeugung. Was für die Architektur, die sowohl mit exakter Konstruktion als auch mit gestalterischer Phantasie zu tun hat, ganz besonders gilt, wenn sie denn von Könnern praktiziert wird. Dies ist leider immer seltener der Fall. Auch für den Bau von Luftschlössern kann es nicht schaden, die Gesetze der Statik studiert zu haben, mein Lieber! Und welche Bauwerke eignen sich besser zum Studium der Haltbarkeit von kreativen Konstrukten als Leuchttürme? Was ist stabiler und verlässlicher als diese extremsten Außenposten unserer Zivilisation? Diese Festungen der Einsamkeit gegen die Naturgewalten, die oft den schlimmsten klimatischen Anfeindungen, eisigem Sturmwind und haushohen Flutwellen standhalten müssen, manche viele Jahrhunderte und sogar Jahrtausende lang? Gibt es ein romantischeres und metaphorisch aufgeladeneres Gebäude als einen Leuchtturm?“ Es geht in diesem Sine noch weiter, aber dies mag einen ersten Eindruck geben.

Auch in nautischen Dingen kennt Hildgunst sich aus, hier berichtet er von seiner Überfahrt nach Eydernorn an Bord eines Segelschiffes, das einen schlimmen Sturm übersteht: „Wer eben noch weinend auf allen vieren übers Deck gekrochen war oder sich röhrend in ein Rettungsboot übergeben hatte, kletterte jetzt artistisch in den Wanten herum und entfesselte die gerefften Segel. Der Kapitän lief wieder hocherhobenen Hauptes herum und bellte in dieser absurden Seemannssprache selbstbewusst seine präzisen nautischen Befehle, die von der Mannschaft schnurstracks umgesetzt wurden: »Fockmast brassen! Klüver kielholen! Toppgasten verklöten!«. Oder so ähnlich. Fasziniert und ergriffen konnte ich dabei zusehen, was für eine mächtige, fast magische Wirkung Leuchtturmsignale auf eine Schiffsbesatzung in Seenot haben.“ Denn natürlich war es das Insichtkommen einiger der 111 Leuchttürme von Eydernorn, welches die Mannschaft und Passagiere des scheinbar schon todgeweihten Schiffes zu neuem Lebensmut beflügelte.

Hildegunst ist der Schreiber dieses „Briefromans“, der eigentlich eher wie ein wunderlicher Reisebericht anmutet. Aber auch das spielt keine Rolle, was sind schon Genrebezeichnungen und andere literarische Schubladen, wenn es um ein solches, in jeder Hinsicht fantastisches, Buch geht. Wie die Leuchttürme der sagenhaften Insel versprüht auch dieses Buch ein wahres Feuerwerk („Stell dir vor, liebster Hachmed, ein Nordlicht würde mit einem Silvesterfeuerwerk ein Kind der Liebe zeugen, das dann während eines blitzdurchzuckten Finsterberggewitters zusammen mit Schwärmen von Irrlichtern im Paarungsrausch am Firmament erscheint und eine Orgie der Illumination feiert – dann hast du vielleicht eine ungefähre Vorstellung von diesem irrsinnigen Phänomen, das sich über Eyderdorn abspielte, während unser Schiff noch mit den Wellen kämpfte.“), ein wundersames Spektakel der ausgefallensten Ideen. Und das in insgesamt 19 Briefen auf über 600 Seiten …

Viele Lesenden kennen Walter Moers natürlich als den Schöpfer des längst legendären Käpt’n Blaubär und etlicher weiterer Romane aus dem sagenhaften Land Zamonien. Je nach Gemütslage wird man diese „Mischung aus Abenteuer- beziehungsweise Horrorliteratur und Robinsonade“ (FAZ) als amüsant oder auch etwas mühsam empfinden. Das Gute ist, dass man alle Zamonien-Werke einzeln und in beliebiger Reihenfolge lesen kann, denn als Serie oder gar Fortsetzung seien sie nicht angelegt, wie der Autor verlautbaren ließ.

Wer sich mit Hildegunst von Mythenmetz auf die lange Reise über 650 Seiten nach Eydernorn und zu einem obendrein ziemlich spektakulären Finale begibt, muss unterwegs so manche fiese Klippe umschiffen und manch gefährlichem Geschöpf entkommen, wird dafür aber vortrefflich unterhalten. Von den sprachlichen Kapriolen einerseits, aber auch von mehr als 100 liebevoll ausgeführten Zeichnungen.

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