Reeds Nautical Almanac: 90 Jahre!

Dieses Werk ist so britisch wie die wohl am längsten durchgängig immer wieder an Sylvester gezeigte TV-Sendung, der berühmte „90. Geburtstag“ mit dem alten Butler James – und es feiert in diesem Jahr tatsächlich seinen 90. Geburtstag: 1932 kam der erste, damals schon informative aber noch vergleichsweise schmale „Reed‘s Nautical Almanac“ heraus.

Seit Captain O.M.Watts sich im Hinterzimmer seines kleinen Ladens in London hinsetzte, um diesen Almanach zusammenzustellen, ist er von keiner Yacht mehr wegzudenken, die in den Gewässern der Nordsee, Nordatlantik, Kanal, Biskaya oder weiter südlich unterwegs ist. Das Standardwerk mit einer Fülle von Informationen: 700 Hafenpläne, Gezeitentabellen für das gesamte Jahr für die Gewässer von Marokko bis Schottland und Skagen, Karten der Gezeitenströme, 7500 Wegpunkte, internationale Signalflaggen, Wetterinformationen, Entfernungstabellen, Lotsenkarten einzelner Gebiete, Ausweichregeln, Radio-Informationen und Kommunikation, Sicherheit, Verhalten bei Mayday und Seenot, Schiffspapiere und Zollformalitäten.

Der Almanac als potenzieller Bestseller

Im Juni 1931 betrat ein junger Schiffskapitän das damalige Büro des Verlages Thomas Reed & Co, gegründet 1782 und der wohl älteste maritime Verlag der Welt. 1859 hatte der Thomas Reed Verlag beispielsweise „Reed’s Seamanship“ veröffentlicht, damals und für viele Jahre danach das Standardwerk für allen Offiziersanwärter der Handelsmarine. Mehr als 100.000 Exemplare waren im Laufe der folgenden Jahre davon verkauft worden. Und nun schlug dieser junge Mann ein Werk vor, welches noch viel erfolgreicher werden könnte.

Die Geschäfte gingen nicht gut in jenem Jahr, die Depression hatte vor allem die Schifffahrt und das dazugehörige Verlagswesen hart getroffen. Der Managing Director von Reed’s, Harold Brunton-Reed, hörte sich die Ideen des jungen Kapitäns daher umso interessierter an.

Oswald M. Watts war mit 23 Jahren einer der jüngsten Kapitäne der Handelsmarine, gab aber 1927 seine Karriere in der Handelsschifffahrt auf. Eine Zeitlang hielt er sich mit Yachtüberführungen über Wasser und schlug sich durch, indem er Yachtseglern die Navigation beibrachte. Außerdem verfasste er immer mal wieder redaktionelle Beiträge für den „Pearson’s Nautical Almanac“. Watts schrieb nicht nur für diesen Almanach, sondern benutzte ihn auch für alle seine Überführungstouren in englischen Gewässern. Und schon bald war er davon überzeugt, dass er einen besseren Almanach würde herausbringen können. Nämlich mit einem Almanach, der speziell für Yachten, Fischerboote und kleine Küstenfahrer geschrieben würde, die in den schwierigen Gewässern rund um die britischen Inseln unterwegs waren. Dieses Werk, so seine Idee, sollte so umfassend sein, dass es seinen festen Platz auf jedem Kartentisch an Bord finden würde. Und das Beste an der Sache, so Watts gegenüber Brunton-Reed: Die Käufer würden Jahr für Jahr wiederkommen und die jeweils neue, aktualisierte Ausgabe kaufen – schon wegen der Gezeitentabellen.

Brunton-Reed erkannte das Potenzial und war angetan, zumal der Pearson’s Almanach 1931 verkauft und eingestellt wurde. Er und Watts gaben sich die Hände, und dieser Handschlag war der einzige „Vertrag“, den die beiden je miteinander hatten. Watts fuhr zurück nach London um die erste Ausgabe des neuen Werkes zusammenzustellen. Erscheinen sollte es am 1. Januar, 1932.

Reeds Nautical Almanac

Die nächsten sechs Monate schuftete Watts oft bis tief in die Nacht oder den frühen Morgen. Er musste eine komplette Liste aller Leuchtfeuer und Tonnen der britischen und kontinentalen Häfen zwischen Brest und der Elbe, einschließlich Dänemark, den Färöer-Inseln und Island zusammenstellen. Dazu die Gezeitentabellen für unzählige Häfen errechnen, Kurse und Entfernungen von Hafen zu Hafen kalkulieren, und ganze Kapitel über maritime Gesetze, das Signalwesen und Lotsen schreiben.

Die Erstausgabe von „Reed’s Home Trade Nautical Almanac and Tide Tables” erschien tatsächlich in der ersten Januarwoche und hatte bereits einen Umfang von 990 Seiten. Die Verkäufe entsprachen dem, was Watts und Brunton-Reed sich erhofft hatten. Und, beflügelt von den vielen positiven Leserbriefen, machte Watts sich sofort an die Arbeit für die zweite Ausgabe. Von Jahr zu Jahr überlegte er immer wieder neu, wie er den Almanac verbessern konnte. Dabei hörte er sehr auf das rege Feedback der Nutzer. Dieses Streben nach ständiger Verbesserung des Reed’s hat sich bis heute gehalten.

In den 1930er Jahren eröffnete O.M. Watts einen Yachtausrüstungsladen in der Albemarle Street in London, einer Seitenstraße von Piccadilly. Hier arbeitete er weiter unermüdlich am Reed’s, in seinem kleinen Büro am hinteren Ende des Ladens. Auch während des Krieges, als die Bomben auf London fielen, wurde der Reed’s veröffentlicht. Eine Sternstunde hatte das Werk, als die Admiralität im Jahr 1944 3000 Exemplare extra bestellte – für die Schiffe, die am D-Day und der Landung in der Normandie beteiligt sein würden.

Tipps für die Kindesgeburt auf See

Nach dem Kriege begannen allmählich wieder die Freizeitsegler, den Almanac zu nutzen. Ein ungewöhnliches Kapitel war eine Anleitung zur Kindesgeburt auf See, von einem befreundeten Arzt verfasst. „Wir dachten, es würde niemals wirklich benutzt werden“, sagte Watts. Er hatte dabei aber die Rechnung ohne Rosie Swale gemacht, die mit ihrem Mann Colin in einem neun-Meter Katamaran von Southampton nach Italien segelte. „Wir vertrauen ganz und gar dem guten, alten Reed’s“, vertraute sie vor ihrer Abreise einigen Bekannten an. Der hatte unter anderem die schönen Ratschläge parat, im Falle eines Falles ruhig zu bleiben und ohne Hast der Natur ihren Lauf zu lassen. Sechs Monate später war es dann soweit: Colin musste als Hebamme funktionieren und das gesunde Baby von Rosie, auf See vor Fiumicino, auf die Welt holen.

Captain O.M. Watts schrieb und redigierte den Almanac weiter, bis 1981, immer in dem Hinterzimmer seines Ladens in der Albemarle Street. Als er sich zur Ruhe setzte, konnte Jean Fowler, die schon seit 20 Jahren bei Thomas Reed gearbeitet hatte, das Werk nahtlos übernehmen und, mithilfe einer ganzen Redaktion von Mitarbeitern, im gewohnten Stil fortführen. Und bis zu seinem Tod 1985 bliebe Watts immer noch in beratender Funktion dabei.

Gegen Ende der 1980er Jahre verkaufte die Familie Brunton-Reed an einen neuen Verlag, der sich Thomas Reed Publications nannte (für den ich in den frühen 1990er Jahren das Hamburg-Büro leitete). Es folgten turbulente Jahre, zumal seit 1981 mit dem „Macmillan & Silk Cut Nautical Almanac“ ein ernstzunehmendes Konkurrenzprodukt auf dem Markt war. 1993 stolperte Reed’s über eine Copyright-Verletzung und stellte 1994 die Publikation ein.

1999 kaufte der Verlag Nautical Data aus dem kleinen Dorf Emsworth, für den ich selber einige Jahre auch während meiner Segelreisen tätig war, den Macmillan Almanac und nannte ihn fortan Reeds. Seit 2003 gehört der Reeds zum Traditionsverlag Adlard Coles Nautical, heute unter dem Dach der Bloomsbury Publishing Plc beheimatet. Der Reeds erwies sich auch in neuerer Zeit als unentbehrlich und wurde, wie gewohnt weiter entwickelt. Im Januar 2011 wurde eine digitale Version, der „Reeds Digital Almanac“, geboren, doch auch die traditionell gedruckte Buchform erfreut sich weiterhin enormer Beliebtheit. Was ganz sicher auch damit zu tun hat, dass dieses Werk schon seit vielen Jahrzehnten Kultstatus genießt. Wegen der handfesten und zuverlässigen Informationen, aber auch der eigenen Sprache. Schon 1972 schrieb eine englische Zeitung: „Abgesehen davon, dass es eine Fundgrube für hart erkämpfte Seefahrerkenntnisse ist, ist Reed’s in einer einzigartigen literarischen Form verfasst, halb Prosa, halb Vers, wie eine frühe Nordische Sage.“

Das mag sich über die Jahre relativiert haben, aber ein einzigartiger Stil ist ebenso geblieben, wie die Schatztruhe an nautischen Informationen. Denn der Reeds ist nicht nur ein immens praktisches Nachschlagewerk, welches mehrere Bücher in einem vereint; sondern es bietet interessierten Seefahrenden auch eine Fülle spannenden Lesestoffs. Für lange Winterabende ebenso, wie ebenso lange Flautentage auf See…

In englischer Sprache.

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2 Antworten

  1. Wunderbar, den Hintergrund zu einem Buch zu bekommen, das man zwar als ganz selbstverständliches und wertvolles Nachschlagewerk zur Hand nimmt, zu dessen Entstehungsgeschichte man aber eigentlich gar nichts im Hinterkopf hat. Das ändert sich nun. Danke dafür!

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