Die Wunderwelt des Hugo Pratt

Hand aufs Herz: Kennen Sie Hugo Pratt? Corto Maltese? Wenn ja, haben Sie ein Faible für anspruchsvolle Comics, lesen gerne auch Werke in französischer oder italienischer Sprache und können sich auf ein Wiedersehen wie mit einem alten Freund freuen. Wenn nein, erfahren Sie in diesem Artikel die Geschichte eines Mannes, der Millionen von Menschen zum Träumen verleitete. 

Als ich ein kleiner Junge war, betrachtete man Comic Strips noch als Schundliteratur. Die bunten Hefte von Mickey Mouse und Fix & Foxi musste ich meist unter der Bettdecke lesen. Später entdeckte ich mit Tintin und Gaston la Gaffe die französisch-belgische Welt der bunten Bilder. Danach bewunderte ich den französischen Zeichner Moebius (alias Jean Giraud), ein phantastischer Künstler, der mit seiner Phantasie auch Storyboards und Designs bekannter Filme beflügelte (Alien, Das fünfte Element, Tron, Abyss). Bei einer Reise nach Italien stiess ich an einem Kiosk beim Durchblättern von Comics auf Corto Maltese – und ich war sofort fasziniert. Der gekonnt mit Tuschepinsel gezeichnete Kapitän ohne Schiff liess ich nicht mehr los. Und ich wollte mehr über seinen Schöpfer Hugo Pratt wissen.

Wie ich rasch feststellte, ähnelte das Leben von Ugo Eugenio Pratt selbst einem Roman. Er stammte aus einer multinationalen Familie mit Wurzeln in Venetien, England, Frankreich und Anatolien bzw. Armenien. Sein Grossonkel war kein geringerer als William Henry Pratt, besser bekannt unter dem Pseudonym Boris Karloff als erfolgreicher Filmschauspieler (u. a. als Frankensteins Monster) der frühen Tonfilmzeit war. Hugo Pratts Vater war Ingenieur.

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1937 zog die Familie in das damalige Protektorat Abessinien des faschistischen Italiens, das heutige Äthiopien. Als 1941 Haile Selassie mit Unterstützung alliierter Verbände an die Macht kam, wurde die Familie, die sich einer faschistisch-italienischen Miliz angeschlossen hatte, verhaftet und interniert. Der Vater starb; um 1943 konnte der Rest der Familie aber mit Hilfe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz vor der herannahenden Armee der Briten nach Italien evakuiert werden. Dort wurde der 17-jährige Hugo Pratt 1944 unter dem Verdacht verhaftet, ein südafrikanischer Spion zu sein. Er wurde der deutschen Wehrmacht überstellt und musste Patrouillendienst bei der Wasserschutzpolizei versehen. Ein Freund, der Partisan und spätere Comiczeichner Giorgio Bellavitis, verhalf ihm zur Flucht über die Front zur einmarschierenden 8. Armee. Dort arbeitete er zunächst als Dolmetscher, dann in der Militärverwaltung, zuletzt unter dem Künstlernamen Ongaine als Sänger und Tänzer für die US-amerikanische Truppenbetreuung. Nach einer anderen Version hatte er für ein faschistisches Bataillon als Dolmetscher gearbeitet und war nach Kriegsende eine Zeit lang in Österreich interniert.

1945 begann er in Venedig ein Kunststudium an der Akademie der Schönen Künste in Venedig. Hier begann auch Pratts Karriere als Comiczeichner, gemeinsam mit Freunden, anderen Zeichnern und Autoren gründete er das Comic-Magazin Asso di Picche (deutsch: „Pik As“). Der Titel bezeichnet sein erstes grösseres Werk.

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1949 erkannte ein argentinischer Verleger das Talent des Zeichners, und Pratt siedelte nach Buenos Aires über, wo er Abenteuerserien zeichnete. Bereits mit Junglemen hatte Pratt den Stil gefunden, den man heute als für ihn typisch ansieht. Für das argentinische Magazin Misterix zeichnete er Capitain Cormorant und Fort Wheeling.

Im Jahr 1953 heiratete Pratt die Argentinierin Gucky Wogerer, mit der er zwei Kinder hatte; die Ehe wurde 1957 wieder geschieden. Hugo Pratt führte zu dieser Zeit ein unstetes Abenteurerleben – fast ganz so wie sein zukünftiger Comic-Held Corto es tun sollte.

1959 kehrte er nach Europa zurück, um in London für mehrere Tageszeitungen und für den Verlag Fleetway Abenteuer- und Kriegscomics zu zeichnen. Drei Jahre später zog er von dort nach Venedig, wo er mit der Koloristin Annie Frognier zusammenlebte. Pratt arbeitete für die Jugendbeilage des Corriere della Sera, für die er klassische Abenteuergeschichten der Jugendliteratur (zum Beispiel Die Schatzinsel, Odyssee) nach Szenarien des Chefredakteurs in Comicform brachte. 

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Eine eigene Comic-Zeitschrift

1967 stand für Hugo unter einem guten Stern: der Mäzen Claudio Bertieri und der italienische Verleger Florenzo Ivaldi gründeten eigens für Pratt das Magazin Sgt. Kirk, um ihm eine angemessene Plattform für seine Comics zu bieten.

Hier wurde 1967 Una Ballata del Mare Salato (Eine Südseeballade) veröffentlicht, eine melancholische Abenteuergeschichte in der Tradition von Joseph Conrad, die als Ausgangspunkt europäischer Graphic Novels gilt. In dieser Geschichte tauchte zum ersten Mal Corto Maltese auf, ein Kapitän ohne Schiff, der zur Hauptfigur von Pratts weiterem Schaffen werden sollte. Ab 1970 und in den folgenden drei Jahren gestaltete Pratt für das Magazin Pif  über 20 Episoden mit Corto Maltese, der damit zum Held einer eigenen Serie wurde. Die anderen Folgen und Geschichten Pratts gerieten mehr und mehr in den Hintergrund, Corto Maltese wurde nicht nur der Comic, der von der Kritik enthusiastisch gefeiert wird, sondern auch ein Verkaufserfolg: Ende der achtziger Jahre verkaufte Pratt pro Jahr fast eine halbe Million seiner Alben.

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Corto Maltese tritt im Verlauf seiner verschiedenen Abenteuer als sensibler, unberechenbarer Held an den markantesten historischen Schauplätzen des beginnenden 20. Jahrhunderts auf: Man trifft auf Corto Maltese zunächst in der Mandschurei während des russisch-japanischen Krieges, sieht ihn im Südpazifik und auf der Insel Escondida in Pratts Meisterwerk Südseeballade wieder, reist dann mit ihm nach Südamerika, in die Karibik, nach Maracaibo und ins Orinoco-Delta, gelangt schliesslich mit Corto nach Europa, nach Afrika und verfolgt seine Spur von Hong Kong bis nach Sibirien. Der sehr belesene Pratt lässt Corto auch bekannte Zeitgenossen wie Jack London, Ernest Hemingway, Manfred von Richthofen, Butch Cassidy, Hermann Hesse und Tamara de Lempicka treffen. Die Originalschauplätze und die geschichtlichen Details geben der Phantasie eine zusätzliche realitätsnahe Tiefe.

1984 zog Pratt nach Grandvaux bei Lausanne. Er arbeitete weiter an neuen Geschichten um Corto Maltese, erneuerte und verbesserte aber auch peu à peu – ganz im Stile von Hergé – ältere Arbeiten. Zu seinen letzten Arbeiten zählt die Geschichte vom letzten Flug von Antoine de Saint-Exupéry: Sein letzter Flug.

1995 erlag Hugo Pratt in Lausanne einem Krebsleiden. Neben zahllosen anderen Preisen und Auszeichnungen wurde Pratt zum Chevalier des Arts et Lettres ernannt. Der Ordre des Arts et des Lettres ist die höchste Auszeichnung, die einem Künstler in Frankreich verliehen werden kann. Bereits 1989 hatte er den Grand Prix de la Ville d’Angoulême am Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême gewonnen. Soeben ging im belgischen Hergé-Museum eine grosse Pratt-Ausstellung zu Ende.

Und wenn ich heute meinen Eltern erzählen würde, dass 2014 beim französischen Auktionshaus Artcurial eine Pratt-Zeichnung von 1979 für den Band „Die Äthiopier“ für 391.800 Euro versteigert wurde, sie würden es mir nicht glauben. Die Schundliteratur meiner Kindertage hat sich längst zur Neuvième Art gemausert hat.

Text: Stefan Detjen/Wikipedia

Abbildungen:  Alle Bilder von Hugo Pratt sind @Cong SA, Schweiz – www.cong-pratt.com.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der Zeitschrift WAVE (Schweiz).
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Corto Maltese wurde am 10. Juli 1887 in Valletta auf Malta als Sohn eines britischen Seemannes aus Cornwall und einer Zigeunerin aus Gibraltar geboren. Als er entdeckte, dass ihm die Glückslinie fehlte, schnitt er sich mit dem Rasiermesser seines Vaters selbst eine in die Handfläche. Der Abenteurer ist ein Kapitän ohne Schiff, der seine Abenteuer zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu bestehen hat. Er versucht, sich aus den ideologischen und politischen Wirren seiner Zeit herauszuhalten und seine eigenen Ziele zu verfolgen, gerät aber oft auf die Seite der Unterdrückten.

 

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