Why we drive: Das Phänomen ist auch beim Segeln zu beobachten. Wir möchten alles immer einfacher, bequemer und sicherer haben. Wird es dadurch aber tatsächlich besser? Was geht uns dabei verloren? Wer kennt es noch, das Gefühl, beim Segeln lebensbedrohliche Situationen überstanden, wirklich Angst erlebt zu haben, dann aber, durch Glück aber vor allem auch eigenes Können heil im Hafen angekommen zu sein? Es ist unbeschreiblich – und für so viele moderne SeglerInnen unwiederbringlich verloren. Und wer geht noch mit der einst so selbstverständlichen Einstellung auf See, dass ihr oder ihm dort draußen niemand anderes als eben sie oder er selbst helfen oder gar retten könne?
In dem hier vorgestellten Buch „Why we drive“ geht es nicht ausdrücklich um diese Fragen. Aber es geht trotzdem um sie und um noch sehr viel mehr. Auch, wenn der Autor vermutlich noch nie einen Fuß auf ein Segelboot gesetzt hat.
Ein Artikel in der englischen Zeitung „The Guardian“ über das Buch beginnt so:
„Vor fünf Jahren saß ich an einem Tisch mit Google-Führungskräften in der Firmenzentrale in Mountain View, Kalifornien. Sie erklärten mir abwechselnd die Vorzüge ihres Prototyps eines fahrerlosen Autos, in dem ich gerade akribisch durch die Straßen des nahegelegenen Palo Alto navigiert hatte.
Die kommende Revolution im Automobilbereich durch das selbstfahrende Auto würde den Verkehr effizienter, intelligenter, sicherer und weit weniger anfällig für menschliche Fehler machen. Außerdem würde es den Fahrer in einen Passagier verwandeln und ihm mehr Zeit für „produktivere“ und „weniger stressige“ Dinge geben (womit die Googles zweifellos meinten: „Mehr Zeit, um auf ihr Telefon zu starren“).
Am Ende der Sitzung wurden Fragen gestellt. Meine war diese: „Denken Sie manchmal überhaupt noch daran, wie viele Menschen tatsächlich gerne Auto fahren?“ Die Frage stieß auf echtes Erstaunen von diesen Leuten, die offensichtlich davon überzeugt sind, dass alle Menschen, so wie sie selbst, von „effizienten Tech-Lösungen“ träumen – und sich nichts sehnlicher wünschten, als mehr Zeit zu haben, um auf ihr Telefon zu schauen. Ohne dabei allerdings, im Gegensatz zu den hier versammelten Größen von Google & Co, bei der Entwicklung dieser „Tech-Lösungen“ unermesslich reich zu werden.“
Das Buch von Matthew Crawford, Autofreak und Kulturwissenschaftler an der Universität von Virginia, geht einer brennenden Frage mit Vollgas nach: Warum in der heutigen Welt „Technokraten und Optimierer versuchen, alles idiotensicher zu machen, und uns dabei wie Idioten behandeln. Es ist eine Annahme, die dazu neigt, sich selbst zu erfüllen; wir spüren tatsächlich, dass wir immer dümmer werden. Vor einem solchen Hintergrund ist Autofahren eine Übung in der Kunst, frei zu sein, und ich vermute, das ist der Grund, warum wir es lieben, Auto zu fahren.“ Und, in noch viel größerem Maße, zu segeln.
Crawford liebt es, an alten Autos zu schrauben, aber sein Buch geht natürlich weit über das Beschwören dieser Liebe hinaus. Es geht um nichts weniger als um den totalen Verlust unserer individuellen Fähigkeiten, uns selbst zu helfen, selber zu entscheiden, selber zu handeln. Die Diktatur der Technokraten möchte die Menschen auf passive Objekte reduzieren, so der Tenor in diesem brillanten Buch, die 24/7 abgelenkt, unterhalten und gesteuert werden sollen.
Zur Untermauerung zitiert er sogar Nietzsche, der sinngemäß sagte: Freude und Lebenserfüllung ergeben sich aus dem Gefühl, selber etwas zu können, und dass die eigenen Fähigkeiten zunehmen. Dazu gehören eben auch manuelle Tätigkeiten: An Autos basteln (oder an Booten), selber entscheiden, von Hand navigieren. Bei Crawford steht das Autofahren als ein Lebensbereich, in dem wir selber (noch) das Steuer selbst in der Hand haben; natürlich gilt dies umso mehr für das Segeln.
Problematisch wird es, wenn Crawford in seinem Buch den deutschen Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ als Argument für sein Plädoyer nutzt. Genau das zeigt die Ambivalenz der Sache. Enthemmtes Rasen auf der Autobahn, mit den negativen Begleiterscheinungen wie (meist für andere) lebensgefährlichem Drängeln, ist für mich alles andere als erstrebenswert. Anders: Die so wertvolle und wichtige Selbstbestimmung darf in einer zivilisierten Gesellschaft natürlich nicht in einen Dschungel zurückführen, in dem sich nur das „Recht“ des Stärkeren durchsetzt.
Andererseits: wenn unsere Leben von den Algorithmen der weltgrößten Reklamefirma (Google) und ähnlichen Techunternehmen bestimmt werden, ist das natürlich auch nichts anderes als der Sieg des Stärkeren. Diesmal dann allerdings total und auf der ganzen Linie.
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