Dies ist keine Neuerscheinung, jedoch eine Neuentdeckung für mich, dank der Empfehlung einer gute Freundin. Und es ist so schön, dass ich es hier natürlich teilen muss …
Das Meer? Ist gleichgültig. Es geht um die Menschen, was das Meer mit ihnen macht – und was sie dann selbst miteinander machen. Ein ebenso poetisches wie deftiges Märchen, welches im 19. Jahrhundert hauptsächlich am und auf dem Meer spielt. Allesandro Baricco hat diese Melange am Meer angerichtet, mit faszinierenden Charakteren: die junge Elisewin mit einer mysteriösen Krankheit, der Geistliche Pluche mit seinen gedichteten Gebeten, die Ehebrecherin Ann Deverià, der tragische Maler Plasson, der komische Wissenschaftler Bartleboom, der Arzt Savigny und der Seemann Adams, die alle ein düsteres Schicksal verbindet – sie alle sind verzweifelt auf der Suche nach etwas, nach Sinn oder Antworten oder Lösungen? Schwer zu sagen. Das alles in der märchenhaften Pension Almayer mit den eigentümlichen, weisen Kindern, die sie offenbar alleine leiten. Und immer wieder das Meer, welches die Kraft hat, zu heilen. So wird es jedenfalls, voller Hoffnung, empfunden.
Der Autor Baricco hat Philosophie und Musikwissenschaften studiert und reichert seinen Text mit vielen Anspielungen auf literarische Vorbilder an. Am offensichtlichsten mit dem Namen der „Pension Almayer“, nach Joseph Conrads berühmten Roman „Almayers Wahn“. Der Geist von Conrad durchweht sozusagen auch an anderen Stellen diese Geschichte, die so alles hat, was auch Conrad so gut vermittelt. Die ganze Tragik einzelner Schicksale, verzweifelter Optimismus und eine Prise vielleicht auch unfreiwilliger Komik.
Ein anderer Bezugspunkt ist das traurige historische Ereignis um das Floß der Medusa. 1816 lief die französische Fregatte Medusa vor dem Senegal auf Grund. Für 400 Menschen an Bord waren nur sechs kleine Rettungsbote vorhanden, der Kapitän befahl, aus den Masten und Rahen des Schiffes ein Floß zu bauen. Dieses trug zunächst 149 Seelen, es sollte von den Booten an die Küste geschleppt werden. Doch nach kurzer Zeit wurde es aufgegeben, die Boote ruderten davon und ließen das Floß treiben. Nur 15 Menschen wurden vom Floß nach einer grausamen Odyssee gerettet, überleben konnten sie nur durch Kannibalismus … Diese Geschichte löste in Frankreich einen Skandal aus, Allesandro Baricco greift sie als einen wichtigen Erzählstrang hier wieder auf.
Der Schreibstil ist einmalig, für jede Figur einzig. Das geht über die übliche Charakterzeichnung in Romanen hinaus, jeder Abschnitt ist aus der Sicht einer dieser Personen geschrieben und das jeweils in einem anderen, immer prägnanten Stil. Dazu gibt es mehrere Bedeutungsebenen, angereichert durch Metaphern und ganz erstaunlich beschriebene Bilder und Gefühle. Jedes Wort mit Bedacht sorgfältig gewählt, ist dies ein mehrdimensionaler Lesegenuss erster Güte. Zu schade, um es nur einmal zu lesen …
Kurz: Es ist ein unglaublich schönes Buch. Darin kann man sich verlieren, wie in einem Ozean. Oder es kann mich retten, wie das Meer eben.