Der Mann hatte schon viele Stunden an der Pinne gesessen und jetzt war es schon lange dunkel. Müde war er allerdings nicht. Im Krieg, der erst seit wenigen Jahren vorbei war, hatte er nächtelang Wache gehen müssen, als Seemann an Bord eines nur leicht bewaffneten Fischkutters der deutschen Kriegsmarine. Mit diesem Kutter waren seine Kameraden und er die endlose Küste Norwegens auf- und abgefahren, als Begleitschutz für die Küstenfrachter, welche die deutschen Stellungen und Posten versorgten. Allerdings wurden sie nur selten angegriffen, von norwegischen Partisanen und später auch immer mal wieder von englischen Fliegern. Wirklich brenzlig war es jedoch nie geworden, jedenfalls behauptete der Mann das, auch wenn er über seine Zeit im Krieg nicht gerne und überhaupt nur ganz selten sprach. Doch im Vergleich zu dem, was andere seines Jahrgangs durchgemacht hatten war das, was er erlebt hatte, wohl eher wie ein Spaziergang gewesen.
Na, das war nun vorbei. Seine Frau lag in der winzigen Kabine ihres kleinen Bootes auf einer der beiden schmalen Kojen und schlief unter einer Decke aus Schafswolle. Die hält auch dann noch warm, sagte sie immer, wenn rundherum an Bord alles klamm und feucht und nass ist, denn die reine Schafswolle nehme keinerlei Feuchtigkeit an. Die beiden waren noch relativ frisch verheiratet und freuten sich, schon so bald nach dem Krieg in diesen Gewässern Dänemarks segeln zu dürfen. Ihr Boot war ein altes, hölzernes Rettungsboot, welches er auf der Werft, auf der er arbeitete, von einem dort abgewrackten Dampfer hatte organisieren und dann zu einem Segelboot ausbauen können.
Nun segelten sie damit in die dänische Sommernacht hinein. Aus dem Großen Belt waren sie in das Smålandsfahrwasser abgebogen. Ihr Kompass war alt und nicht justiert und, wie alles an Bord, irgendwo auf der Werft oder anderswo organisiert worden und als Seekarte besaßen sie nur einen Übersegler von vor dem Krieg. Sorgen machten sie sich deswegen keine. Sollten sie irgendwo auflaufen, könnten sie einfach das Schwert hochziehen und über die Untiefe rutschen. Oder, wenn es gar nicht anders ging, im flachen Wasser aussteigen und das Boot schieben. Kein Problem, solange es wie jetzt nur schwach wehte. Positionslampen oder gar einen Motor hatten sie natürlich nicht, dafür eine schöne große Petroleumlampe und einen langen Riemen, mit dem sie das Boot bei völliger Flaute notfalls eine kleine Strecke weit wriggen konnten.
Auf ganz ähnliche Art hatte die junge Frau noch bis 1943 oder 44 in den Sommerferien auf der Unterelbe segeln können, in offenen, aber auch schweren und unhandlichen Jugendkuttern. Anfangs waren immer noch Jungs dabei gewesen, auf Urlaub von der Front, die sie und ihre Freudinnen aus der Schule und aus dem Segelverein kannten. Aber von Jahr zu Jahr kamen weniger und weniger von ihnen zurück, um Heimaturlaub zu machen und am Ende segelten die Mädchen fast immer alleine. Immerhin, auf einem Boot irgendwo auf dem großen Fluss zu sein war bei Flieger- oder Bombenalarm vielleicht sogar einer der sichersten Orte, auch wenn es offiziell verboten war, sich dann draußen oder gar auf dem Wasser aufzuhalten. Doch allemal besser, vermutlich, als mit vielen anderen zusammen in einem Luftschutzkeller eingepfercht zu sein. Ihre Lieblingstante hatte sie bei einem der vielen Bombenangriffe auf Hamburg trotzdem verloren.
Vorbei! Vorbei war das alles, auch wenn sich einige Erlebnisse tief in sie eingebrannt hatten und sie Zeit ihres Lebens nicht wieder verlassen würden. Jetzt waren sie dankbar, hier entlang segeln zu können, sie wollten unbedingt nach Kopenhagen. Dazu hatten sie ein Visa benötigt, ohne Visa durfte damals noch kein Deutscher einfach so nach Dänemark reisen und normalerweise bekam man auch keines. Genau das sagte ihnen auch der Zöllner, der sie im Yachthafen Langelinie im Regen stehen ließ, während er ihre Pässe und Visa sehr genau überprüfte. Woher sie denn die Visa erhalten hätten?
„Durch die Vermittlung von dänischen Freunden.“
„Dänische Freunde?“ Der Zöllner schnaufte. „Das können ja wohl nur Kollaborateure gewesen sein, mit solchen haben wir doch eigentlich kurzen Prozess gemacht!“ Aber als die beiden sagten, wie die Familie hieß, die ihnen bei den Visa geholfen hatte und die in Dänemark bekannt und einflussreich waren, verstummte der Zöllner und ließ sie in Ruhe.
Noch aber waren sie gar nicht in Kopenhagen angekommen. Am Morgen nach der Nacht im Smålandsfahrwasser hatte der Wind fast ganz abgeflaut und sie hatten Hunger, ihre kargen Vorräte aber waren, wie der Wind, so gut wie aufgebraucht. „Lass uns die nächste Insel anlaufen und schauen, ob wir bei einem Bauern vielleicht etwas zu essen auftreiben können“, schlug er vor und steuerte das Boot schon bald in den winzigen Hafen einer kleinen Insel, deren Namen sie erst erfragen mussten, weil sie diese auf ihrer großen Übersichtskarte nicht hatten identifizieren können.
Etwas Geld hatten sie, aber keine dänischen Kronen, sondern nur die noch junge, 1948 eingeführte D-Mark. Der Mann am Postschalter, wo sie das Geld tauschen wollten, hatte allerdings überhaupt noch niemals D-Mark gesehen. Er konnte mit diesem Geld nichts anfangen, ebenso wenig wie mit diesen beiden jungen Deutschen, die mit ihrem kleinen Boot hierher gesegelt waren.
„Vielleicht kommt ihr ja gar nicht aus Westdeutschland, wie ihr sagt, sondern aus Ostdeutschland und am Ende seid ihr Agenten oder Flüchtlinge oder so etwas…“, sagte er sorgenvoll. Die beiden hoben ihre Hände, beteuerten, dass sie tatsächlich aus Hamburg seien und gewiss nicht aus der DDR und sie hätten ja auch die Visa und ihre Pässe, aber die Zweifel und die Ratlosigkeit des alten Postbeamten konnten sie nicht zerstreuen. Ihre Mägen knurrten mittlerweile und sie versuchten dem Alten klar zu machen, dass sie dringend Geld tauschen müssten um etwas zu Essen zu kaufen, denn an Bord hatten sie nur noch ein paar Flaschen Bier, aber sonst nichts.
Ein paar weitere Menschen waren in das winzige Postamt gekommen und sie betrachteten neugierig das junge deutsche Paar und palaverten auf Dänisch miteinander. Dann wurden sie gerettet, von einem jungen Dänen etwa ihres eigenen Alters, der gut deutsch sprach, sie sorgfältig befragte und alles für den alten Postbeamten übersetzte. Der nickte schließlich, als sei er zu einem Entschluss gekommen. Ja, meinte er, er werde gleich am nächsten Morgen die Zentralbank in Kopenhagen anrufen und die D-Mark Scheine ganz genau beschreiben und wenn sie denn echt wären, würde er sie morgen gegen Kronen eintauschen. Dabei strahlte er, als sei alles geregelt, aber die beiden sahen sich enttäuscht an. Morgen? Und sie spürten dabei das Magenknurren.
Der junge Däne begriff als einziger im Raum ihre Situation. Er werde ihnen etwas zu essen holen, beteuerte er, und ihnen ein paar Kronen leihen, nur bis morgen, aber sie mussten hoch und heilig schwören, dass sie wirklich aus Hamburg kämen und dass ihre Geldscheine echt seien. Die beiden konnten ihr Glück kaum glauben und beteuerten abermals alles und dann verließen sie zu dritt das Postamt. Der Däne gab ihnen ein paar Kronen, sagte aber auch, dass er bei sich zuhause etwas zu essen für sie holen würde. Die beiden dankten ihm und meinten, sie hätten ja noch das Bier an Bord und ob er nicht mit zu ihnen aufs Boot kommen wolle und der Däne brachte köstliches, frisches Brot, salzige Butter und fetten Käse und dann saßen sie alle an Bord und tranken das Bier dazu und es kam den beiden vor, als seien sie direkt in das Schlaraffenland gesegelt. Bald waren sie alle beste Freunde und sie zeigten ihm die Etiketten auf den Bierflaschen, Elbschloss-Brauerei Hamburg stand darauf, aber jetzt glaubte der Däne ihnen schon lange, dass sie keine Spione aus der DDR seien.
Aber ob sie denn überhaupt nicht wüssten, was heute los gewesen sei in Deutschland?
Nein, das wussten sie nicht, sie waren ja schon einige Tage unterwegs und ein Radio hatten sie nicht.
Also erzählte der Däne es ihnen und da begriffen sie, warum der alte Postmann so skeptisch gewesen war, vielleicht deswegen.
In der DDR hatte es einen Aufstand der Arbeiter gegeben. Es war der 17. Juni 1953.