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Gibraltar, Hamburg

Auffallend sind vor allem die unzähligen Lichter rundherum an den Rändern der Bucht, die schon aus vielen Meilen Entfernung sichtbar sind, das Wasser ist im Kontrast dazu nur um so dunkler. Das Boot segelt schnell und fröhlich, durch die Wellen schäumend, manchmal blüht und sprüht die sonst schwarze See hellgrün phosphoreszierend auf. So nähern sie sich bald dem markanten Felsen. Als dunkle Schatten vor dem erleuchteten Gibraltar fressen die vielen vorbeiziehenden Schiffe die Lichter auf, die sie dann hinten wieder ausscheißen. Als er einige Minuten unter Deck ist, um Standort und Kurs zu überprüfen, fragt sie leise von draußen: Hast du gerade gepfiffen? Nein, er pfeift nie an Bord, denn das bringt ja Unglück und Sturm oder auch beides, die meisten dieser alten Seefahreraberglauben sind eben doch wahr. Nein, sagt er noch einmal, das war bestimmt ein Delfin, davon wohnen viele hier in der Bucht. Sie pfeifen nachts oft, damit wir sie dann hören können und wissen, dass sie da sind obwohl wir sie nicht sehen können. Dafür sind sie zu schnell in der dunklen See, und nur manchmal hört man ein nahes Platschen, dicht an der Bordwand, und dann weiß man auch, dass sie da sind.

Sie findet das eher etwas unheimlich, aber unheimlich ist ja nur das Unbekannte. Sagt er. Das Unbekannte ist unheimlich, aber doch nicht das Pfeifen und Planschen unserer fröhlichen Freunde, der Delfine, so versucht er sie zu beruhigen. Und vielleicht war es ja auch nur der Block an der Großschot, der quietscht ja auch immer mal. Aber eigentlich weiß er, dass es ein Delfin war. Er wünscht sich so sehr, irgendwie mit ihnen sprechen zu können um zu erfahren, welches ihre Geheimnisse sind. Er wünscht sich außerdem auch, ihre Geheimnisse zu kennen, die des Mädchens, warum nur ist sie seit einigen Tagen so unsicher?

Da ist das Pfeifen wieder, schrill, eher ein Quietschen. Nein, es ist wohl doch kein Delfin. Das Schiff segelt auch nicht schnell und mühelos, sondern bewegt sich ruckartig, von den Festmacherleinen an die Landungsbrücke gefesselt, wann immer der Schwell eines vorbeifahrenden Schiffes es zum Tanzen bringt. Schlagartig fällt es ihm ein, als er, mit quälenden Kopfschmerzen, halb erwacht. Tatsächlich wie ein Schlag trifft es ihn: Die Landungsbrücke ist es, die quietscht, das ist kein Delfin in der nächtlichen Bucht von Algeciras, langsam erwacht er weiter und weiter aus tiefem, wie traumlosen Schlaf obgleich er doch eben noch dort war, in der milden, wunderschönen, dunkelsamtenen Nacht mit Kurs auf Jebel Tariq, heute bekannt als Gibraltar. Er und das Mädchen. Damals. Neulich.

Das bretonische Mädchen. Der Teufel möge sie holen. Mochte sie doch in der Sahara oder sonst einer afrikanischen Wüste, welche auch immer gerade zur Hand ist, verdörren. Warum, warum nur hatte sie ihn verlassen, an jenem trostlosen, sonnigen, hellen marokkanischen Morgen?

Sehnsucht mischt sich mit Traurigkeit und pochendem Kopfschmerz, in dem Nichtzustand zwischen den komatösen Schlaf des Besoffenen und verkaterter Halbwachheit. Wieder quietscht es, rau und hässlich und aufdringlich, dass es ihm physischen Schmerz im Kopf macht. Die Delfine sind weg, die magische mediterrane Nacht ist fort, stattdessen spürt er säuerliche Übelkeit in sich aufsteigen. Außerdem liegt neben ihm, ruhig und regelmäßig atmend, eine Frau in seiner breiten Vorschiffskoje, den wirren schwarzen Haarschopf ganz süß und reizend verstrubbelt. Auch das noch.

Willkommen in Hamburg.

Vorsichtig berührt er das schwarzhaarige Wesen, und sie lächelt im Schlaf und dreht sich dann leise seufzend auf die Seite und pennt weiter. Wer bist du?, denkt er und sinkt zurück aufs Kissen. Es ist nicht das erste Mal, dass ihm das passiert. In Frankreich hatte er ein ganz nettes Mädchen getroffen, mit großen braunen Rehaugen, und sie war dann sogar noch ein paar Tage bei ihm geblieben. Leider hatte sie ihm nichts bedeutet, außer dass er dringend weibliche Gesellschaft brauchte. Und dann war da noch die verrückte, streitsüchtige Keltin gewesen, die er ausgerechnet in Amsterdam aufgegabelt hatte. Auch auf diese Art. Immer gesoffen und gestritten, egal, was er auch sagte. Aber ganz lustig war es mit ihr auch gewesen, auf jeden Fall nicht langweilig. Trotzdem ertappte er sich immer wieder dabei, wie er an Clarisse dachte. So, wie jetzt auch. Wer auch immer die Schwarzhaarige neben ihm sein mochte.

Von Gibraltar aus waren er und Clarisse, kurz Issy, nach Afrika gesegelt. Die grünäugige und ebenfalls schwarzmähnige Bretonin, die er Monate zuvor auf dem Parkplatz vor dem Safeway-Supermarkt in Lymington getroffen hatte. In Lymington waren sie nur wenige Tage geblieben, zwischen all den feinen Yachtseglern und Clubmenschen, fortgetrieben von solchem Stumpfsinn. Nur fort: Kurs Südwest, sie wollte gleich hin und weg, vielleicht hatte sie es ja vom ersten Tag an gewusst, dass sie nur bis Afrika mitkommen würde. Auf jeden Fall waren sie also schon bald losgesegelt, nach Westen aus dem Solent hinaus, an Hurst Castle und den Needles vorbei, dann war England hinter ihnen versunken und knapp zwei Tage später waren sie schon in der westlichen Bretagne gelandet. Besser gesagt auf der Insel Ouessant. Die wird er nie vergessen, selbst noch an diesem verkaterten Morgen muss er grinsen beim Gedanken an ihre wilde Insel, obwohl er dort um ein Haar sein treues, wichtiges Schiff verloren hätte.

Auf dem er jetzt immer noch wohnt, sein schwimmendes Schneckenhaus, in dem er nun schon seit fast vier Jahren haust und reist und lebt. Das gerade jetzt vom unruhigen, kabbeligen, nervösen Hamburger Hafenwasser kräftig durchgeschüttelt wird, dass die Flaschen weiter hinten im Schapp klappernd aneinander rollen. Gequält dreht er sich um, vorsichtig, aus Erfahrung bereits in Erwartung des stechenden Schmerzes, der ihm bei schnellen Bewegungen durch den Kopf schneiden wird. Diese Dürre im Mund, die Zunge liegt dort wie ein aufgequollener, doch trockner Schwamm, er wünscht sich ein Glas Wasser und kann sich doch noch nicht dazu aufraffen, dafür seine gemütliche, breite Koje hier im Vorschiff zu verlassen. Er starrt die marokkanische Wolldecke an, die, bunt gemustert, an der hölzernen Außenhaut an Steuerbord angebracht ist. Casablanca, geht es ihm durch den Kopf, in Casa ist sie abgehauen, er ist dann von dort zurück nach Hamburg gesegelt, die ganze lange Strecke alleine an Bord; warum gerade nach Hamburg, das weiß der Himmel, aber es ist nun einmal seine Heimatstadt, sofern er so was überhaupt noch für sich beanspruchen kann und darf und möchte.

Also Hamburg. Konzentriert versucht er, die vergangene Nacht zu rekonstruieren. Versoffen hat er sie in den Kneipen am Hans Albers Platz, unter zu vielen Menschen und bei zu laut dröhnender Musik in zu schlechter Luft, die am Ende kaum noch zum Atmen reichte. Und dann – jetzt erinnert er sich, weiß dabei aber noch nicht, was und wie viel ihm peinlich sein muss und was weniger. Die Namen hat er vergessen, die Namen der Damen, waren es zwei oder drei oder mehr, das weiß er auch nicht mehr so genau, aber erzählt hat er denen ordentlich was, von seinem Leben auf See und weiß der Teufel was nicht alles noch. Und gesoffen haben sie, er von allen vermutlich am meisten, und dann auch noch irgendwo getanzt und wie er überhaupt zurück an Bord gekommen ist und was er vorher noch getan haben mag oder auch nicht, will ihm ganz und gar nicht einfallen.

Nur, dass irgendwann diese Schwarzhaarige auftauchte, und in seinem besoffenen Zustand hatte sie ihn an Issy erinnert, und so waren sie wohl irgendwie zusammen an Bord gelangt. Und hier in der Koje gelandet, und zum Schlafen waren sie dann noch eine ganze Weile nicht gekommen. War es schön gewesen? Hoffentlich wenigstens das…

Stöhnend schließt er die Augen. Wasser, denkt er, ich brauche wirklich Wasser, der Mund ist so trocken und bitter. Denkt dann abermals an die Bretonin, die er eben noch selbst in die Wüste verwünscht hatte. Warum nur hatte sie ihn so plötzlich verlassen? Sie hatten sich geliebt, da ist er sich sicher, Streit gab es nur selten und wenn, dann endete auch das jedes Mal mit leidenschaftlichen Versöhnungen eben gerade hier, in der gemütlichen breiten Koje im Vorschiff. Na ja, jetzt grinst er trotz seiner hämmernden Kopfschmerzen schon zum zweiten Mal an diesem Morgen, meistens, häufig jedenfalls. Oft genug hatten sie es auch einfach draußen an Deck getan oder an irgendeinem entlegenen Strand oder sonst wo. Ach, Clarisse, Issy, meine große Liebe…

Was für eine Scheiße, flüstert er leise und lehnt den Kopf gegen die marokkanische Wolldecke, die natürlich Issy gekauft hat. Kurz bevor sie dann ging, wie um ihm noch eine letzte, bleibende Erinnerung an Bord zu hinterlassen. Seufzend und todmüde klettert er, vorsichtig, vorsichtig, aus der Koje und tapst auf unsicheren Beinen nach achtern, entschlossen, sich eine Flasche Mineralwasser aus der Pantry zu holen. Dann schüttelt der Schwell eines kurz zuvor für ihn unsichtbar vorbeigefahrenen Schiffes sein Boot durch und so lässt er sich, resigniert, nur zwei Meter von seiner Koje entfernt auf das Sofa im Salon sinken. Dort liegt noch ihr Pullover. Ihr Lieblingspullover, den sie damals auf dem Safeway-Parkplatz schon angehabt hatte, aber in Marokko ist es für so einen gemütlichen, dicken, schottischen Wollpullover natürlich zu heiß und so hatte sie ihn wohl an Bord vergessen. Seither tröstet er sich damit. Wenn es ihm besonders dreckig geht, benutzt er diesen Pullover als Kopfkissen. Dann träumt er von ihr, wenn er dann überhaupt schlafen kann, und es geht ihm meist noch dreckiger. Er legt den Pullover auf den Tisch, seinen Kopf darauf und schließt die Augen.

Reißt sich dann zusammen. Das Leben ist schön, sagt er sich. Aber zurück nach Hamburg, das war ein Fehler. Zurück ist eben immer ein Fehler. Aber wo soll er sonst hin?

Zuhause ist er nur hier, an Bord. Und auf See.

 

…dies ist noch eine Story, die ich vor etlichen Jahren geschrieben habe, ursprünglich als Kapitel eines damals geplanten Buches, welches ich bis jetzt jedoch noch nicht geschrieben habe. Es war ziemlich bald nach der Rückkehr von meinen Jahren als segelnder Liveaboard nach – Hamburg. 

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