Nun haben wir ihn doch verpasst, wenn auch nur knapp: Den 100. Geburtstag von Alfred Andersch, geboren am 4. Februar 1914 in München, gestorben am 21. Februar 1980 in Berzona, Tessin. Der Sohn eines Offiziers war in der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei aktiv, weshalb er 1933 von den Nazis verhaftet und für einige Wochen (Monate?) im KZ Dachau eingesperrt wurde. Später „durfte“ er als Soldat in der Wehrmacht dienen, desertierte jedoch 1944 in Italien und geriet dort in amerikanische Kriegsgefangenschaft wo er über ein Jahr verbrachte. Nach dem Krieg war er ein wichtiger Motor des deutschen Literaturbetriebes der Nachkriegszeit, er war ein ganz herausragender Schriftsteller und Romancier und sicherlich noch sehr viel mehr – er hat vor allem Hörfunk gemacht, dabei vielen großen Autoren sehr geholfen (darunter zum Beispiel Arno Schmidt oder auch Wolfgang Borchert) und zahlreiche Essays geschrieben – aber er war auch, und das ist vielleicht weniger bekannt, ein Abenteurer und ein Entdecker auf Reisen. Ein Segler war er sicher nicht, dem Meer fühlte er sich dagegen immer zugezogen: „Später zog mich das Meer stärker an als das Gebirge, dergestalt, daß mir auch heute noch eine Reise, die mich nicht ans Meer führt, als unvollständig erscheint“, schrieb er im Oktober 1977. Und fügte hinzu: „Von allen Büchern über das Meer, die ich gelesen habe, ist Josef Conrads ‚Spiegel der See’ das authentischste.“
Das schrieb er im Vorwort zum seinem „Lesebuch“ (erschienen im Fischer Verlag), einer persönlichen Anthologie mit Texten, die er ganz nach seinem eigenen Geschmack ausgewählt hat. Andersch war, in seinen späteren Jahren, als Romanautor nicht ganz unumstritten (welcher Autor von Bedeutung wäre das schon!), wobei Thomas Mann offenbar zu seinen großen Fans zählte: „Es sind für mich wahre Kostbarkeiten, Kostbarkeiten der Wahrheit, in Ihrer Studie. Ach ja, welche Wohltat ist die Stimme des Wissens und loyaler Intelligenz inmitten des quälenden Geschreis der Dummheit“, schrieb er ihm ein einem Brief. Weniger bekannt, und für uns Leser des Literaturboot vielleicht umso wichtiger, ist sein Werk als Reiseschriftsteller: „Norden Süden rechts und links“, „Wanderungen im Norden“ und „Hohe Breitengrade“ sind die Reisebücher, allesamt erschienen in seinem Hausverlag Diogenes und heute leider nur noch antiquarisch erhältlich. Hier schwelgt er in seiner Vorliebe zur Beschreibung und verleiht der Reisebeschreibung eine neue Qualität: „Alfred Anderschs Buch Hohe Breitengrade hat der Gattung des Reiseberichts, die zu einem oberflächlichen Touristenpotpourri heruntergekommen ist, wieder zu Ehren verholfen“, schrieb, vielleicht etwas sehr enthusiastisch, Herbert Heckmann zum Erscheinen des Buches (um1966) in der Frankfurter Neuen Rundschau.
Andersch selbst schrieb über das Beschreiben: … „Weil mich eigentlich nichts interessiert als Sachen, Dinge – im weitesten Sinne natürlich, auch der Mensch ist ein Ding -, habe ich meinem Erzählband ‚Mein Verschwinden in Providence’ zwei Sätze eines walisischen Literaturgelehrten als Motto vorangestellt: »Art is not about abstractions or ultimate issues or infinity or eternity. Art is about buttons.« Und es scheint mir bezeichnend zu sein, daß von allen meinen Kritikern nur Claude Prévost in der kommunistischen L’Humanité diesem Motto einige Aufmerksamkeit gewidmet hat. Im deutschen Sprachraum wußte man mit der Behauptung, die Kunst handele nicht von Abstraktionen, letzten Fragen, Unendlichkeit und Ewigkeit, sondern von Knöpfen, schlechterdings nichts anzufangen.“
Die Neue Zürcher Zeitung erwähnte anlässlich seines 100. Geburtstages auch die Reisebücher: „ Anderschs Lebensmotiv war die Flucht in die Freiheit. Flüchtlinge, Deserteure sind die meisten seiner Helden, von regelrechten Fluchten in die Wildnis handeln seine Reiseberichte. In seinen Essays hat er wiederholt das Schreiben als befreiende Realitätsflucht geschildert. Die Crux seiner Romane ist wohl das Schuldgepäck, das der Autor hier auf seine imaginäre Reise mitgeschleppt und zugleich loszuwerden versucht hat. Anderschs beste Texte sind nicht zufällig da entstanden, wo er die Geschichte ganz hinter sich liess und tatsächlich in der Wildnis ankam. Wer den bedeutenden Nachkriegsautor Alfred Andersch kennenlernen will, lese seine ‚Wanderungen im Norden’: eine wunderbare Beschreibung von Steinen, Pflanzen und Tieren in einer Welt, die zu ihrem Glück kaum jemals mit Menschen in Berührung kam.“
Gewünscht hätte ich mir, dass zu seinem Geburtstag also auch wenigstens eins seiner Reisebücher neu aufgelegt worden wäre; leider ist es nicht so. Erschienen sind dagegen die Bände „Die Inseln unter dem Winde“ (Klappentext des Verlages: Literarischen Ruhm hat Alfred Andersch vor allem als Erzähler erlangt: Als Erzähler hatte er, beim Publikum wie bei der Kritik, den größten Erfolg, als Erzähler ist er ausgezeichnet worden, und als Erzähler hat er sich seinen Platz in der Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur gesichert. Der vorliegende Band versammelt seine besten realistischen und phantastischen Geschichten – Erzählungen, die ganze Lebensläufe enthalten, Geistergeschichten, Momentaufnahmen in der Tradition der amerikanischen Short Story, politische Geschichten, Familiengeschichten – Prosastücke, in denen Andersch sich immer wieder neuen literarischen Formen zuwendet.) und der Briefwechsel zwischen Alfred Anders und Max Frisch, auch dazu noch einmal ein Verlagstext:
„Alfred Andersch und Max Frisch begegneten einander zum ersten Mal 1957 im legendären Café Odeon in Zürich. In seiner Funktion als Rundfunkredakteur bittet Andersch den drei Jahre älteren Frisch um einen Ausschnitt aus dem eben fertig gestellten Roman ›Homo faber‹. Kurz darauf schreibt Frisch einen ersten Brief; die Korrespondenz wird intensiver Anfang der sechziger Jahre, als Frisch seine Familie verlässt und mit Ingeborg Bachmann in Rom zusammenlebt. 1965 übersiedelte Frisch mit seiner neuen, jungen Liebe Marianne Oellers, seiner künftigen Ehefrau, ins Tessin, nach Berzona, wo die Anderschs seit 1958 ein Haus besaßen. Er wohnte in illustrer Gesellschaft: Neben Alfred Andersch lebten auch Golo Mann und der Grafiker Jan Tschichold in dem kleinen Bergdorf. Man ging gemeinsam wandern, traf sich im Lebensmittelladen auf ein Schwätzchen. Doch die Idylle währte nicht lange, die Spannungen zwischen den beiden streitbaren Geistern Frisch und Andersch nahmen zu, bis hin zum zeitweiligen Abbruch jeglicher Beziehung durch Andersch.“