Irgendwohin, nach Norden

Nach Norden, irgendwohin. Ein Fundstück ist sie, diese kleine starke Geschichte, die ich schon vor sehr vielen Jahren geschrieben habe und die mir neulich zufällig wieder in die Hände fiel… 

 

Der Himmel war bewölkt und sternenlos und selbst über dem nördlichen Horizont, dort also, wo es in den vergangenen Nächten kaum dunkel geworden war, so finster, dass er ein leichtes Unbehagen spürte. Es mochte so gegen zwei Uhr morgens sein und die gleichmütige Eintönigkeit der See hatte sich seit Stunden nicht geändert. Das Leuchtfeuer von Skagens Rev war vor einiger Zeit unter der südlichen Kimm verschwunden. Der hölzerne Kutter machte eine anständige Fahrt, und morgen würden sie in Norwegen sein. Alles war in Ordnung, aber sein Unbehagen blieb.

Er starrte in die für diese nordische Nacht untypische Finsternis und blickte auf seine Uhr, das Ziffernblatt in dem schwachen, rötlichen Licht der Kompassbeleuchtung kaum erkennend, und spürte die Müdigkeit. Na, bis zum Sonnenaufgang würde es nicht mehr lange hin sein, und dann könnte er Leonie wecken und sie segeln lassen und sich selbst in die Koje legen zum Schlafen. Leonie hasste es, nachts zu segeln, aber morgen würde sie sich freuen, in Norwegen zu sein, und diese Nacht war wirklich finster. Die Seen waren nicht groß und marschierten gleichmäßig, aber auch gespenstisch und tiefschwarz am Eichenrumpf des Bootes entlang. Es war unheimlich still und dunkler als sonst, und er nickte in der samtenen Einsamkeit für einen Moment ein, den linken Ellenbogen auf die schwere Pinne gelegt. Doch sofort war er wieder wach, unnatürlich hellwach, aber er konnte in der Finsternis nichts sehen und in der Stille nichts hören; nur dieses komische Gefühl war da und er wusste, dass irgendwas nicht stimmte. Er fröstelte leicht, obschon die Nacht milde war, und sagte laut zu sich selbst: „Verdammt, jetzt reiß‘ dich mal zusammen!“

 

„Was ist denn los mit dir?“

Diese Stimme! Er fuhr zusammen und ein unbeschreibliches Gefühl spülte alles fort, Vernunft und Logik, und es bliebt nur das Glück, das er plötzlich spürte.

„Kiana!“

„Was ist denn eigentlich los mit dir“, fragte sie wieder.

„Kiana! Du bist so schön, und ich liebe dich, du wunderbare Frau, wirklich, wusstest du das eigentlich?“

„Natürlich, du großer kleiner Träumer, natürlich weiß ich das!“ Sie lachte. „Was ist heute nur los mit dir?“

„Kiana, ich liebe dich, mehr als alles andere“, sagte er, mehr zu sich selbst. Dann, zu ihr: „Es ist komisch, aber es kommt mir vor, als seiest du ganz schön lange weg gewesen. Jahre. Eine Ewigkeit, noch länger vielleicht, Lichtjahre…“

„Du kommst manchmal wirklich auf eigenartige Gedanken.“ Wieder lachte sie, leise. „Aber das ist bei dir halt so. Deswegen liebe ich dich ja auch, du Träumer!“

„Es ist doch ein wunderschöner, mystischer Traum, unser Leben, das wir so leben, hier an Bord. Und diese Nacht!“

Sie legte ihren Kopf auf die Seite und ihre langen Haare fielen auf ihre rechte Schulter hinab, und sie strich sich einige davon aus ihrem Gesicht.

„Genau deswegen leben wir es ja auch, dieses Leben.“

 

Danach sagten sie beide eine ganze Weile nichts mehr, sondern sahen sich gegenseitig an, und er blickte zwischendurch auf den Kompass und in die Segel, die nur als schwache Schatten vor dem dunklen Himmel so gerade eben zu erkennen waren. Und dann sah er sie wieder an, und sie saß noch genauso da, wie vorher. Immer noch war er gefangen von diesem Gefühl wie Glück, denn sie saß ja hier. Mit ihm zusammen, im Cockpit des Kutters, der schon seit Jahren ihr Zuhause war. Und sie lächelte ein geheimnisvolles Lächeln, unergründlich wie das Meer unter ihnen, wann immer sie seinen Blick bemerkte. Und sie saß tatsächlich hier, in diesem Cockpit, welches zum Zentrum seiner und ihrer Welt geworden war, vor langer Zeit schon; sie saß hier wie so viele Nächte vor dieser Nacht im Skagerrak, und es kam ihm vor, als sei auch dies schon alles unendlich lange her gewesen. Na, das machte ja nun nichts mehr, dachte er sich, denn auf jeden Fall war sie jetzt hier und er liebte sie, noch viel stärker als früher, wenn das überhaupt möglich war.

 

„Du hast recht, es ist wirklich eine schöne Nacht“, sagte sie zu ihm. „Wann werden wir die Küste erreicht haben, meinst du?“

„Kurz nach Sonnenaufgang. Oder so zwei, drei Stunden später.“

„Wir sind aber doch noch ziemlich weit draußen auf See, oder?“ Ihre Stimme war still, abwartend und irgendwie vage.

„Schon“, erwiderte er unbekümmert. „Aber wir machen eine anständige Fahrt und morgen Vormittag dürften wir in Mandal sein.“

„Ich wünschte, diese Nacht würde niemals enden. Fühlst du die Stille, ich meine, spürst du sie wirklich?“

Er bekam eine leichte Gänsehaut. „Ja. Es ist komisch. Es ist eine schöne Nacht, aber irgendwie auch komisch. Ich kann es nicht beschreiben. Aber wir machen schon eine anständige Fahrt.“

„Ich wünschte, die Nacht würde nicht enden“, widerholte sie. „Ich habe überhaupt keine Lust, morgen früh in Mandal oder sonst wo einzulaufen. Lass uns weiter segeln. An Lindesnes und Lista vorbei, nach Norden, wirklich hinaus auf See…“

Er sah sie an und diesmal lachte sie nicht. Ihre Stimme war eben anders gewesen, traurig und fremd, so, wie er sie noch nicht kannte. Und sie bemerkte diesmal seinen Blick auch nicht, sondern sah hinaus auf See, zu irgendeinem unsichtbaren Punkt in der Dunkelheit.

„Meinst du…“, begann er.

Doch sie unterbrach ihn. „Irgendwohin. Irgendwohin, aber vor allem weit hinaus auf See!“ Dann lachte sie wieder, aber es klang nicht mehr fröhlich.

Er antwortete nicht und sie schwiegen, doch jetzt schwebte etwas in der Luft zwischen ihnen. Dann fühlte er wieder die Müdigkeit und er wunderte sich, denn es schien ihm, als sei die Zeit stehen geblieben.

 

2

 

Er musste am Ruder eingeschlafen sein. Die schwere, hölzerne Pinne war mit einem Tampen belegt, doch der Kutter war trotzdem über 20 Grad aus dem Kurs gelaufen. Offenbar hatte der Wind etwas gedreht und der Himmel über der nordöstlichen Kimm begann, sich heller zu färben, und bald würde endlich die Sonne aufgehen. Aber merkwürdig, dachte er, sehr lange konnte er nicht geschlafen haben, denn sonst wäre der Kutter noch weiter aus dem Kurs gelaufen und das hätte ihn dann sicher geweckt.

Oder Kiana.

Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass er alleine im Cockpit war. Diesmal aber versagte ihm die Stimme nicht und er sagte ihren Namen, dann lauter und immer lauter bis er schrie: Kiana!, während er spürte, wie die Leere in ihn zurück kroch und da, wo früher einmal das Glück gewohnt hatte, war nur noch ein dunkles Loch, welches immer leerer und tiefer wurde. Er kannte es noch zu gut, verdammt, er kannte es und er wusste nicht, ob er es noch ein zweites Mal ertragen könnte. Einer verzweifelten Idee folgend, machte er schnell die zwei Schritte bis zum Brückendeck, beugte sich nach vorne, stieß das Niedergangsluk auf und fiel in die Kajüte hinein.

„Kiana!“

Aber er wusste schon, dass sie nicht mehr an Bord war, und er rief noch einmal ihren Namen und Tränen füllten seine Augen und er rief immer noch ihren Namen, während im Osten die Sonne über eine kalten, mäßig bewegten See aufging. Es war ein prächtiger Sonnenaufgang, von einer Art, wie man ihn selbst hier draußen auf See nur selten erlebt.

Zitternd kroch er zurück ins Cockpit.

Als Leonie, durch seine Rufe geweckt, frierend in T-Shirt und Unterhose in das Cockpit kam, fand sie ihn auf einer der Duchten sitzend, das Gesicht in den Händen vergraben.

„Hey, was ist denn?“ Sie beugte sich über ihn und berührte seine Schulter und nahm ihn in ihre Arme. „Sag doch mal was!“

„Wie?“, fragte er. Hob seinen Kopf, sagte, sehr leise: Kiana?, sah dabei Leonie an, die er wirklich ganz gerne mochte, und er sah dabei durch sie hindurch, meinte aber dann, etwas lauter: „Leonie.“ Es hatte einen Moment gedauert, bis er sich auf ihren Namen besinnen konnte, und dabei dachte er immer noch an Kiana. Leonie ließ ihn los, setzte sich neben ihn auf die Ducht und sah ihn von der Seite her an, und in ihren Augen lag etwas wie Unsicherheit und, vielleicht, sogar richtige Angst. „Was hast du? Geht es dir nicht gut?“

„Wie? Nein. Doch. Ich weiß es nicht“, sagte er, resignierend. Und, traurig: „Du bist so lieb!“

Nach einer kleinen Pause raffte er sich auf, weiter zu sprechen. „Ich bin nur so wahnsinnig müde. Zieh dir was an und segel eine Weile, und ich lege mich eine halbe Stunde lang hin, und dann mache ich uns Frühstück, okay?“

Erleichtert, dass nun hoffentlich wieder alles in Ordnung war mit ihm, lächelte sie. „Klar“

Kurz darauf kam sie wieder an Deck, diesmal in Jeans und dickem Pullover, und er sagte ihr den Kurs den sie steuern sollte. Und, bereits im Niedergang stehend: „Also in ungefähr einer halben Stunde weckst du mich, und auch, falls sonst irgendwas ist, ja?“

Es war nun schon richtig hell geworden und sie stand, zierlich aber entschlossen, an der schweren Pinne und sah auch sehr schön aus, vor allem, als sie wieder lächelte, so etwas verschlafen, wie sie noch war. „Ist schon gut. Leg‘ dich nur in die Koje. Ich wecke dich dann.“ Als sein Kopf schon verschwunden war, rief sie ihm noch nach: „Und mach die Posis aus, ja?“

 

3

 

Er legte sich dankbar in die Koje, die sie auf See immer benutzten. Sie lag gleich steuerbords neben der Niedergangstreppe und war sehr behaglich, und sie war noch angewärmt von Leonies Körper. Unbewusst atmete er ihren Duft ein, den das Kissen noch ganz sacht und schwach hergab, und fühlte sich einen kurzen, glücklichen Moment lang geborgen. Er blickte auf das dunkle Mahagoni der Kajüte, sah die leicht angelaufenen Messingrahmen der Bullaugen und die kleinen, im Seegang leicht schwankenden, rotweiß karierten Vorhänge an beiden Seiten davon und fühlte sich zuhause. Eine Gewissheit breitete sich in ihm aus: Er war hier, an Bord, weil er eben einfach hierhergehörte. Nichts weiter. Hinter seinem Kopf war der Navigationstisch, auf dem der Übersegler des Skagerrak ausgebreitet lag, und durch das offene Niedergangsluk sah er ein Stück des nunmehr blaugrauen Himmels. Wenn er die Augen schloss, spürte er die Bewegungen seines Schiffes in der See und hörte das Geräusch des an der Bordwand vorbei strömenden Wassers, nur wenige Zentimeter entfernt hinter den dicken Planken des Kutters. Alles war so, wie er es liebte, und dann dachte er wieder an Kiara. Seit jener Nacht hatte er sie nie wieder ganz aus seinen Gedanken gelassen, das merkte er nun, höchstens immer mal wieder verdrängt um nicht völlig zu verzweifeln. Aber jetzt hatte er sie ja wieder getroffen und sie war in dieser Nacht tatsächlich bei ihm gewesen.

Schlafen konnte er nicht, trotz seiner ungeheuren Müdigkeit. Er lag eine ganze Weile halbwach in der Koje, träumte von Kiara und dachte nach über ihre eigenartige Begegnung heute Nacht. Er dachte immer wieder, dass sie bei ihm gewesen war und dass sie nicht mit nach Mandal oder sonst wo einlaufen wollte, sondern immer weiter segeln, hinaus auf See, irgendwohin nach Norden. Daran, vor allem, dachte er und ob er sie wohl noch einmal wiedersehen würde. Schließlich stand er auf, zog sich an und ging in die Pantry, um das Frühstück für Leonie und sich zu machen.

Als er zu ihr hinaus blickte sah er, dass der Himmel vollständig aufgeklart hatte und ganz wolkenlos war, aber die Sonne wärmte noch nicht richtig. Es hatte etwas aufgebrist und der Kutter schob mit einer tollen Fahrt durch die Seen und zog eine lange, glitzernde Blasenspur hinter sich her.  Die Bewegungen des Schiffes waren heftiger geworden, aber er machte mühelos eine ordentliche Portion Rühreier und frischen Kaffee und schnitt etwas Brot dazu und reichte alles, auch das Butterfässchen, hinaus in das Cockpit. Leonie hatte die Pinne belegt und nahm all die Dinge an und dann frühstückten sie beide, zusammen im Cockpit. Leonie freute sich und sagte: „Mindestens sieben Knoten! Und voraus ist schon die Küste, ich kann sie seit einer halben Stunde sehen!“

Er sah von seinem Frühstück auf und bemerkte nun auch den dunkelblauen Streifen, der direkt voraus am Horizont lag. Sie waren noch weit draußen, doch mit jeder See, die ihr Kutter hinauf- und wieder hinab stürmte, kamen sie näher und bei dieser schnellen Fahrt würde es wirklich nicht mehr lange dauern. Und wieder hörte er Kiaras Stimme, „weiter, hinaus auf See, irgendwohin“, und er wusste in diesem Moment, dass er sie dort wiedersehen würde.

Dann spürte er Leonies Blick und wusste auch, dass sie etwas bemerkt hatte von seiner Stimmung, aber auch, dass er es tun würde und sie dabei nicht mitnehmen könnte. Also musste er doch vorher Mandal anlaufen, oder, noch besser, Kristiansand, denn von dort aus fuhr eine Fähre nach Dänemark und sie würde es von dort aus also leichter haben, wegzukommen.

Leonie sah ihn an und als sich ihre Blicke trafen, bemerkte er wieder die Angst in ihren Augen. Sie weiß es, dachte er, und es ist nicht zu ändern. Es fiel ihm plötzlich verdammt schwer, es ihr zu sagen, denn er mochte sie wirklich sehr gerne, aber Kiara ließ sich nicht länger verdrängen. Also begann er, es ihr zu erzählen, erst langsam und stockend, nach den richtigen Worten suchend, denn er wollte unbedingt, dass sie ihn verstehen würde. Endlich sprach er flüssiger und sah sie auch wieder direkt an und sie schluckte ihre Tränen gerade so herunter und es schien ihm, als beginne sie zu begreifen und dass in ihren Gefühlen sicherlich kein Platz für Bitterkeit sei. Nein, es war klar, dass sie ihn auch jetzt noch mochte, vielleicht mehr als vorher. Auf See, dachte er, ist es leichter, andere Menschen zu verstehen und andere Dinge werden hier wichtiger. Nichts als das Schiff und du und der andere Mensch und er erkannte, dass sie ihn wirklich verstand. Und zu begreifen, dass das Leben auf See ein so anderes ist, als an Land. Während der Kutter mit belegter Pinne von ganz alleine auf die näherkommende norwegische Küste zu segelte und das Kielwasser fröhlich achteraus blieb, redete er eine ganze Weile und fühlte sich abwechselnd frei und dann auch wieder elend dabei und nun strömten die Tränen über ihr Gesicht, aber sie war einfach nur traurig. Tief, tief traurig. Sonst nichts.

 

„Die See war an jenem Tag und in der Nacht ungewöhnlich wild, und diesem Schiff, auf dem wir damals ja schon zwei Jahre gemeinsam gelebt hatten, wurde von dem Sturm übel mitgespielt. Es war im Frühjahr vor der holländischen Küste; wir waren aus dem Mittelmeer gekommen und wollten den Sommer in Skandinavien verbringen. Während des Sturms verbrachten wir die meiste Zeit gemeinsam hier im Cockpit, leinten uns an und gaben uns gegenseitig Mut. Am Anfang hatten wir uns noch unterhalten, soweit das bei dem großen Lärm der See möglich war, aber als der Sturm andauerte, redeten wir immer weniger miteinander. Vor allem, als wir erkannten, dass wir bald nicht mehr genug Seeraum haben würden, um langsam leewärts treibend liegen bleiben zu können. Oh, diese verfluchte Küste dort! Um nicht auf die Sände getrieben zu werden, mussten wir wieder Segel setzen und den Kampf aufnehmen. Solange wir überhaupt noch die Chance dazu hatten!

Kurz darauf muss es passiert sein. Es ist über ein Jahr her und ich will es auch gar nicht so genau wissen. Es macht ja doch keinen Unterschied. In jener Sturmnacht war ich jedenfalls nach vorne gegangen, um die Sturmfock anzuschlagen – ja, wir hatten uns dazu entschlossen, nur unter der Sturmfock gegenan zu gehen und so vielleicht wenigstens unsere Position halten zu können. Die Sände müssen da so ungefähr zehn Meilen in Lee gewesen sein. Gerade dann hat uns eine dieser riesigen Freakseen erfasst und von da an weiß ich nur noch sehr wenig. Ich war plötzlich unter Wasser, schluckte jede Menge salziges Wasser und geriet in Panik als ich erkannte, dass das Deck irgendwo über mir war und dass wir also gekentert sein mussten. Unmöglich mit diesem Schiff, aber es war wohl auch nur ein kurzer Knock-down, aber ich war eben auch unter Wasser und hatte diese Panik und hing irgendwo an meinem Lifebelt fest, mit dem Schiff über mir, wo eigentlich der Himmel hätte sein müssen, aber dem schien ich ja jetzt auch so recht nahe zu sein. Ich klammerte mich einfach irgendwo fest und schluckte immer mehr Wasser aber hörte auf, zu strampeln, und dachte wohl tatsächlich, dass es nun vorbei sei.

Aber das war es ja auch. Gleich darauf lag ich wieder an Deck und jetzt schluckte ich kein Wasser mehr und auch der Nachthimmel war wider dort, wo er hingehörte. Natürlich hatte sich das Schiff aufgerichtet und lag nun wieder beigedreht in der groben See, als sei nichts gewesen. Aber ich hatte dieses flaue Gefühl und wusste sofort, dass irgendwas nicht stimmte und dass eine Katastrophe passiert war. Daran kann ich mich noch deutlich erinnern, und an den Moment, als ich zum Cockpit sah und begriff, dass es leer war.

Ich konnte nicht einmal schreien. Nicht einmal ihren Namen konnte ich mehr rufen und natürlich wäre das auch völlig sinnlos gewesen in dieser grauenvollen Nacht. Ich lag da vorne an Deck und alles war aus mir weg, alle Energie und alle Gedanken und ich konnte nur immer und immer wieder registrieren, dass Kiana verschwunden war. Weg. Einfach so. Und dabei war sie natürlich auch angeleint gewesen, aber später fand ich ihren Lifegurt und sah, dass das beschissene Ding gerissen war.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da so gelegen habe, ich war gelähmt. Lange aber kann es nicht gewesen sein, auch wenn es mir wie eine Ewigkeit vorkam. Dann bin ich nach achtern, habe den Schwimmkragen und das Licht, das an diesen Dingern befestigt ist, genommen und in die See geschmissen, in die Dunkelheit achteraus, und ich hoffte, dass sie es finden würde. Einen Moment blitzte das Licht auf, aber dann ging ich wieder nach vorne um endlich die verdammte Fock zu setzen, und dann war das Licht weg. Ich weiß nicht, ob es ausgegangen war oder was, jedenfalls dachte ich, in dieser Dunkelheit und in dieser See findest du sie niemals wieder, und ich begann zu heulen und hatte eine so tierische Wut. Aber jedenfalls war wenigstens endlich die Fock oben und ich begann, sie zu suchen. Natürlich war das aussichtslos, bei dem Seegang und in der Dunkelheit, und ich dachte noch daran, dass sie ja auch eine Schwimmweste anhatte. Und erst dann kam es mir in den Sinn, über Kanal 16 einen Mayday-Ruf abzusetzen und andere Schiffe heranzuholen. Aber dann dachte ich auch, dass sie vielleicht gerade in dem Moment, in dem ich unter Deck am UKW Funkgerät herumfummelte, das Schiff an sich vorbeisegeln sehen und nach mir rufen würde und daher stürzte ich zwischendurch immer wieder ganz panisch an Deck. Es war einfach nur grauenhaft, ein schrecklicher Alptraum.

Jedenfalls suchte ich die ganze Nacht und am Morgen wurde der Wind endlich etwas weniger, aber es war aussichtslos. Außerdem war das Wasser natürlich noch verdammt kalt und so viele Stunden in solch einer Kälte übersteht man nicht. Aber das wollte nicht in meinen Kopf und ich suchte weiter, ohne überhaupt noch genau zu wissen, wo ich überhaupt war, und als andere Schiffe die Suche bereits für erfolglos erklärt und aufgegeben hatten. Ich selbst war am Ende, vor Schlaflosigkeit und Verzweiflung halluzinierte ich, dachte, ich sähe sie immer mal wieder da oder dort im Wasser und selbst am Mittag wollte ich noch immer meine Kreise drehen und weiter suchen und ich wäre wohl auch noch selbst dabei drauf gegangen, wenn nicht die Holländer mich einfach mit einem Seenotkreuzer aufgebracht, einen Mann zu mir an Bord gestellt und mich nach Ijmuiden hinein geschleppt hätten.“

 

4

 

Leonie stand auf der Pier in Kristiansand, neben sich ein Seesack und zwei Taschen, und es war ein schöner Tag, der Himmel war freundlich und das Wasser des breiten Fjordes tiefblau unter der hellen Sonne, und sie konnte sogar den großen Leuchtturm draußen in der Einfahrt sehen. Traurig schaute sie dem hölzernen Kutter nach, auf dem er nun alleine war, und als ihre Tränen kamen, wandte sie sich ab. Er hatte noch im Hafen das riesige Großsegel und die Arbeitsfock gesetzt und nun kreuzte er in der leichten Sommerbrise den Fjord hinaus, während sie alleine auf der Pier stand und weinte und es nicht länger ertragen konnte, dem Kutter hinterher zu sehen. Aber dann dachte sie an ihn und Kiana und vor allem daran, wie anders alles war, draußen auf See, und sie wusste, dass sie dort draußen glücklich sein würden. Er würde an Lindesnes und Lista vorbei segeln, wirklich hinaus auf See, und irgendwo dort draußen würde er Kiana wiedertreffen und glücklich sein, endlich wieder, und nichts und niemand würde es ihnen diesmal nehmen können. Auch das wusste sie, als sie ihren Seesack und ihre Taschen nahm und fortging.

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