Jede Autorin, jeder Autor kennt diese grässliche Furcht vor dem ersten Satz. Der Einstieg in den Text, an dem man endlos feilen kann, bis man sich im Kreise dreht und verrückt wird… Umso schöner ist es, ein Buch aufzuschlagen und einen ersten Satz zu lesen, der in seiner schlichten Perfektion einfach unübertreffbar ist. So in dem wunderbaren „Buch vom Meer“ des norwegischen Autors Morten A. Strøksnes, geboren am Ende der Welt im Kaff Kirkenes am Nordpolarmeer, dann jedoch in Oslo und Cambridge Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte studiert. Ich glaube, diese Information ist wichtig, denn sonst kann einer einen Satz wie diesen nicht fertig bringen: „Dreieinhalb Milliarden Jahre sollten vergehen von der Entwicklung des ersten primitiven Lebens im Meer bis zu Hugo Aasjords Anruf, der mich an einem späten Samstagabend im Juli, während eines lebhaften Abendessens im Zentrum von Oslo, erreichte.“
Peng. Das sitzt, denn es gibt den Ton an für das nun folgende Buch, es umreißt das Thema und steckt, sozusagen, den Claim ab. Es geht um das Meer, um das Leben und viele andere wichtige und unwichtige Dinge auch. Der Plot ist schnell umrissen: Zwei gute Freunde gehen angeln. Nun ja, das geschieht im Nordatlantik, und sie angeln auch nicht auf Dorsche oder Makrelen, sondern jagen dort ein Monster der Tiefsee, den legendären Eishai nämlich. Das ist nicht ganz einfach, aber die beiden kennen sich aus. Mit ihnen, zwei überaus angenehmen Reisegefährten übrigens, begeben wir Leser uns dann auf eine bunte, humorvolle, melancholische, abenteuerliche Entdeckungsreise die von Überraschungen nur so strotzt. Und von Informationen, die zuweilen in die hochinteressante Kategorie passen von „Zeugs, das niemand wissen muss, aber jede seichte Cocktailparty-Plauderei zum Höhenflug verhilft“, oder so ähnlich.
Nun zu sagen, das Buch wäre eine, wenn auch hochinteressante, Plauderei, würde dem nicht gerecht werden. Und doch, der Ton ist köstlich, die Freude an der Sprache fast greifbar. Und locker eingestreut immer wieder grundlegende Wahrheiten, wie diese etwa: „Seeleute an Land wirken häufig wie rastlose Gäste. Selbst wenn sie nie wieder zur See fahren werden, erwecken sie in Gesprächen und in ihrem Verhalten den Anschein, als wären sie nur kurz zu Besuch. Die Sehnsucht nach dem Meer werden sie nie ganz los. Das Meer, das nach ihnen ruft, muss sich jedoch mit ausweichenden Antworten begnügen.“ Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe-r Leser-innen, aber ich fühle mich hier sehr gut getroffen!
Dann wieder, bei der Beschreibung der Insel Engeløya, kommt unter vielen anderen auch dieses Bild: „Singvögel trällern, als hätten sie zum Frühstück Champagner getrunken.“ Nur ein Beispiel von vielen, aber ach, welch ein Genuss ist es, solch einen Autor zu lesen. Der es schafft, bei aller Ernsthaftigkeit des Sujets – es geht ums Meer und um Abenteuer und Sehnsucht, aber auch um ganz profane Dinge wie Überfischung, Plastikmüll und Erderwärmung – in einem lakonisch lockeren, lustigen Ton und dabei doch auch angemessen zu bleiben. Dieses Buch ist ein Feuerwerk an Geschichten und Anekdoten, an Fakten und Wissen. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken, kleine Juwelen und große Schätze. Und nicht einmal, in keinem Satz, in keinem einzigen Nebensatz klingt Morten Strøksnes auch nur ansatzweise überheblich, belehrend oder sonst wie unangenehm wie so manch ein Gelehrter, der mit seinem Wissen punkten möchte.
Lassen Sie sich selbst überraschen. Tauchen Sie ein in die wundervollen Tiefen dieses Buches, in dem wir so vieles erfahren über das Meer. In einem Radiointerview sagte Morten Strøksnes einmal, die Norweger hätten ihre traditionelle Verbindung zum Meer verloren und würden sich nur noch dafür interessieren, weil ihre Bohrinseln dort herum stehen, oder so in dem Sinne. Nun, dieses Buch dürfte jedem helfen, eine vielleicht verlorene Verbindung zum Meer wider herzustellen. Nicht nur in Norwegen. Ich kann nur sagen: Lesen Sie es!