Der Wodka-Lemon. Eine Entscheidung.

Der Wodka-Lemon ist auch nicht mehr das, was er mal war. Nichts ist mehr das, was es mal war, dachte er. Verfluchte Sache, das. Aber am meisten nahm ihm das mit dem Wodka-Lemon im Moment mit, denn eigentlich hätte wenigstens dieser Drink noch so wirken sollen, wie früher. Er hätte ihm schmecken müssen, wie in der Karibik, als er ihn immer mit dem Maschinisten von dem herunter gekommenen Schoner getrunken hatte. Immer dann, wenn sie die Maschine mal wieder zusammengeflickt hatten oder mit den anderen zusammen die Segel gesetzt hatten. Also eigentlich immer.

Oder so wie ein Jahr danach. Als er mit dem Segelboot seines Vaters so allerhand angestellt hatte und noch größere Pläne schmiedete. Rund um Afrika zu segeln oder, lieber noch, einfach nur mit dem dunkelhaarigen Mädchen in die Karibik. Eigentlich hätte der Wodka-Lemon noch genauso wirken müssen wie damals, als nach drei Tagen auf der Nordsee Helgoland direkt über dem Bugkorb auftauchte und er sich großartig fühlte, weil er auch diese Tour wieder gut geschafft hatte und als er mit seiner Crew dann, im Südhafen, im Cockpit saß und sie Musik hörten und tranken und rauchten. Auf der Insel dann hatten sie noch viel mehr getrunken, aber sie waren alle gut drauf gewesen, denn sie hatten aus lauter Übermut und Fröhlichkeit getrunken.

Aber heute wirkte der Wodka-Lemon gar nicht mehr so, wie früher. Nachdenklich sah er seinem Gegenüber in die geröteten, zeräderten Augen. Damals hatte er noch daran geglaubt, alle seine Pläne verwirklichen zu können oder einfach nur so leben zu können, wie er es sich vorstellte. Jetzt war er immer noch jung, nicht mehr so jung wie damals aber immer noch jung, und jünger, als viele andere. Doch er hatte schon seit längerem keine Pläne mehr gehabt, an die er hätte glauben können. Verfluchte Sache, auch das.

Immer noch nachdenklich, senkte er seinen Blick in das am Rand angestoßene Wasserglas, in dem sich viel Wodka und fast eben so viel Bitter Lemon befand. Er spielte mit dem Glas, dass die Flüssigkeit darin leicht hin und her schwappte. Wasser der Karibik. Nahm dann noch einen tiefen Schluck und dachte, es wirkt schon doch noch. Wie früher. Na bitte, dachte er, es kommt schon noch wieder.

Dann drückte er die gerade erst angerauchte Zigarette auf der Tischplatte aus und legte die Kippe vorsichtig neben sein Glas und sagte: „Diese verfluchte Qualmerei. Ich sollte wirklich damit aufhören!“

„Stimmt. Aber du wolltest ja schon so oft damit aufhören, immer wieder, seit Jahren…“

„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach er ungeduldig. „Vielleicht schaffe ich es ja wirklich mal. Heute nicht. Ist ja auch nicht so wichtig.“

Eine Weile sagte keiner was, dann begann er wieder zu reden. Über das, was ihm wirklich wichtig war.

„Wir hatten mal Träume und Pläne und einen Glauben daran und wir haben uns nichts vorgemacht, haben fantastisch gelebt. Und dann? Was haben wir daraus gemacht? Nun sitzen wir hier und langweilen uns zu Tode und alles hat seinen Platz und nichts bewegt sich und jetzt fangen wir erst so richtig damit an, und was vorzumachen. Dass wir doch ganz zufrieden sind. Schlechter geht’s nicht, oder?“

„Wir haben vieles von dem erreicht, was wir wollten…“

Heftig schüttelte er den Kopf. „Nichts, nichts, nichts. Nicht einmal im Ansatz, sage ich dir. Gar nichts!“

„Das wäre allerdings schlimm“, gab sein Gegenüber zu. „Aber du siehst das nicht ganz richtig. Es geht uns besser, als vielen anderen…“

Weiter kam er nicht. „Geld!“, platzte es aus ihm heraus.

„Allerdings. Denn das braucht man hier nun einmal. Du hast Geld, um wirklich angenehm zu leben. Eine schöne Wohnung in einer der besten Gegenden. Einen abwechslungsreichen und gut bezahlten Job. Viele würden dich darum beneiden. Du solltest dankbar dafür sein.“

„Dankbar? Pah!“ Mehr musste er nicht dazu sagen, für ihn war die Sache ja klar genug.

Aber sein Gegenüber ließ nicht locker. „Und dann deine Frau…“

„Ist sie nicht“, nuschelte er. Blickte dabei auf und seinem Gegenüber ins Gesicht. Und es sah nicht gut aus, er hatte wirklich zu viel getrunken. „Sie ist nicht meine Frau. Sie ist meine Freundin. Das ist ein Unterschied!“

„Aber sie ist wie deine Frau!“

Das saß. Er brauchte noch einen tiefen Zug Wodka-Lemon. Wehrte sich. „Sie ist aber nicht meine Frau, sie ist meine Freundin.“ Und nach einem weiteren Schluck: „Das ist auch so ein Ding. Keine Romantik mehr. Verdammt. Sie ist wie meine Frau, dabei ist sie meine Freundin. Auch hier ist also alles an seinem stinknormalen, vorhersehbaren, langweiligen Platz. Dabei hat man Freundinnen lieber, als Frauen.“

„So ein Quatsch!“

„Kein Quatsch!“

„Es ist doch Quatsch“, beharrte der andere. „Und du weißt es doch genau. Ob Frau oder Freundin, was macht das schon für einen Unterschied. Frauen können ebenso romanisch sein.“

Er schüttelte den Kopf. Das meinte er nicht. Es ging um den Zustand des Seins. Ist doch wohl nicht so kompliziert, oder? Er merkte, wie seine Gedanken verschwommen wurden, die Bilder im Kopf unklar, ebenso wie seine Worte, die er auch gar nicht mehr aussprechen wollte. Er hatte sie satt, diese ewigen Einwände des anderen. Lieber kippte er den Rest seines Wodka-Lemons und mixte sich gleich noch einen. Mit dem sicheren Griff des Betrunkenen langte er nach den beiden Flaschen, schüttete von beiden in sein Glas. Hielt sich dann kurz an der Tischkante fest, bis er wieder einigermaßen gerade sitzen konnte und wechselte das Thema.

Denn dies lag ihm gerade wirklich am Herzen.

„Letzten Sommer“, begann er. „Als wir das Schiff nach Skagen gebracht haben. Auf dem Weg in Århus, das wunderschöne große Holzschiff im Hafen dort.“ Nahm einen Schluck, vorsichtiger diesmal, und redete weiter. „Es war so ein herrlicher Tag. Wir kamen in den Hafen gesegelt und ein alter Mann fuhr auf der Pier mit seinem Fahrrad hin und her, es war wohl der Hafenmeister, denn er wollte uns einen Platz zuweisen. Aber es war ein herrlicher Nachmittag und wir segelten nur unter Groß etwas hin und her und wählten uns dann unseren Platz selber aus, auf der anderen Seite des Hafens. Wir legten an und gingen in die Stadt. Mein Kumpel und ich. Nur mal kurz auf ein Bier, sagten wir uns. Als wir wiederkamen, war es fünf Uhr morgens und die Sonne stand grell und hell am Himmel. Dann sahen wir uns das Holzschiff an und ich dachte: Sowas müsste ich haben.“

Er legte eine kurze Trinkpause ein. Sein Gegenüber sagte nichts, noch nicht, sah ihn nur misstrauisch an. Er wusste ja, was kommen würde.

„Ja, sowas müsste ich haben. Um darauf zu leben. Vielleicht so 13, 14 Meter lang der Kahn, genug Platz für ein paar Leute oder wenigstens für zwei. Stell dir vor, an Bord leben, immer…“

Jetzt regte sich der Andere. „Das meinst du ja wohl nicht ganz ernst!“

„Aber klar! Im Sommer könnte man in der Ostsee bleiben und im Winter… ins Mittelmeer, irgendwo, Süden, Sonne…“

„Schon wieder ein neuer Traum. Schon wieder so unausgegoren. Wie immer! Neulich wolltest du noch nach Südfrankreich ziehen.“

„So what?“, brachte er hervor, bevor er weiter trank. „Alles besser, als dieser Scheiß hier!“

„Ach ja?“

„Ja! Ich habe also einen neuen Traum und so neu ist der gar nicht. Und du kannst das nicht ernst nehmen, denn dir fehlt wohl die Fantasie dazu. Oder der Mut. Oder beides.“

Lehnte sich zurück, schüttelte seinen Kopf, dass ihm ein leichter Schwindel packte. Sah sein Gegenüber unsicher, aber auch herausfordernd an. „Ich werde also solch ein Schiff kaufen und darauf leben und dann…“

Und es kam, was immer kam. Was kommen musste.

„Und dann? Wovon wirst du das Schiff kaufen? Wovon wirst du überhaupt leben, wenn du an Bord wohnst? Deinen bequemen Job als Redakteur wirst du dann ja aufgeben müssen. Und als freier Schreiber wirst du ja wohl kaum leben können…“

„Woher willst du das wissen? Ich habe es noch nie ernsthaft probiert. Ich kann es ja nicht schon jetzt als gescheitert betrachten, bevor ich es überhaupt versucht habe!“

„Dann versuchs! Versuchs… versuchs…“ Die Worte seines gegenüber hallten in seinem betrunkenen Kopf wieder. Versuchs… versuchs… Dann kam es. Wieder. „Wenn du weißt, wie das funktionieren soll, mit dem Geld.“

„Das wird schon irgendwie“, murmelte er matt, mehr in sein Glas, mehr zu sich selbst.

„Irgendwie! Irgendwie! Wie soll das denn was werden?“

Versuchs. Irgendwie. Irgendwie. Versuchs. Die Worte kreisten in seinem benebelten Hirn, bis der Nebel auf einmal aufriss. „Schluss jetzt!“, brüllte er. „Wenn es danach ginge, würde ich mein Leben für irgendwelche Idioten arbeiten, statt für mich selbst. Unsinn schreiben, nur um all das hier zu bezahlen. Schönes Häuschen, Auto, all das Zeug. Ich mach das nicht mehr mit!“ Ihm fiel ein, was seine Freundin, die auch einen gut bezahlten Job hatte, neulich noch gesagt hatte: Sie würden ja zu den besser Verdienenden gehören. So ein Scheiß! Als ob das ein Lebensziel wäre, zu den verfickten Besserverdienenden zu gehören! „Aber ich“, sagte er dann, laut, sehr laut. „Ich werde nicht zulassen, dass du die Oberhand über mich gewinnst. Ich werde trotz all deiner Einwände und kleinkarierter Nörgeleien die Kraft dazu haben, mein Leben zu ändern. Und zwar so, wie ich es mir vorstelle. Ich werde nicht kampflos so leben, wie die Umstände es mir vorschreiben oder die Feigheit oder die Trägheit, oder auch nur, weil mir vielleicht nichts anderes einfällt!“ Wütend, schäumend vor Wut folgte er einem plötzlichen Impuls und schleuderte das schwere Longdrink Glas, noch halbvoll mit Wodka-Lemon, in den großen Spiegel, der gegenüber von dem Tisch, an dem er saß, an der Wand hing. Es knallte und klirrte, der Spiegel zersprang in tausend Scherben und nun war er wieder allein.

Sein Gegenüber war verschwunden. Und befriedigt vermerkte er für sich, dass der Drink aus der Karibik zum Schluss wohl doch noch so gewirkt hatte, wie früher, als er noch jung gewesen war.

Nein, nicht jung. Nur jünger, nur ein kleines Etwas jünger…

Dieser Gedanke beruhigte ihn. Zufrieden und plötzlich wieder halbwegs nüchtern kritzelte er von Hand auf einem Zettel die Kündigung für seine Stellung bei der Zeitschrift, für die er bis eben gearbeitet hatte.

Nun war er also frei.

Und alleine, dachte er, mit Blick auf die Spiegelscherben am Boden.

 

Auch dies ist eine nette kleine „Fundsache“ aus den 1980er Jahren. Wenn ich es heute so lese wird mir schon klar, warum mein Leben so verlaufen ist, wie es eben war. Wunderbar. 

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Detlef Jens – Gefährliche Gezeiten. Ein Segel-Krimi aus der Bretagne
Detlef Jens – Black Jack. Ein Segel-Krimi
Detlef Jens – Hafenjahre, Leben an Bord
Detlef Jens - Land's End. Ein Segelbuch über das Leben an Bord

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